Rheinische Post Hilden

Gewalt ist Brasiliens Heimsuchun­g

Auf den Straßen vieler brasiliani­scher Städte herrscht Krieg. Viele Menschen glauben, er sei nur noch mit brutaler Härte zu beenden.

- VON TOBIAS KÄUFER

RIO DE JANEIRO An der Wand des kleinen Büros von Elitusalem Gomes de Freitas, Stadtrat in Rio de Janeiro, prangen martialisc­he Aufkleber mit den Namen von Waffenhers­tellern. Neben dem Logo der österreich­ischen Firma Glock hat jemand auch noch eine israelisch­e Flagge geklebt. Freitas ist das, was der politische Beobachter gemeinhin als politische­n Hardliner bezeichnet. Freitas ist ein enger Freund der mächtigste­n Polit-Familie Brasiliens, der des rechtspopu­listischen Präsidente­n Jair Bolsonaro.

In seinem Büro nennen sie den Abgeordnet­en „Major Freitas“, in Erinnerung an seine aktive Zeit als Polizeimaj­or. Freitas hat es mit seinen extremen Ansichten in Rio zu einer gewissen Berühmthei­t gebracht. „Für jeden getöteten Polizisten müsste man 50 Banditen töten“, forderte er vor gut zwei Jahren. Seine Anhänger lieben ihn dafür, seine Kritiker werfen ihm Menschenve­rachtung vor. „Man muss den Kontext sehen, in dem ich das gesagt habe“, beginnt Freitas zu erklären. Er habe die Worte unter dem Eindruck eines Massakers benutzt. Im Jahr 2016 habe es 112 ermordete und 556 verletzte Polizisten gegeben. Im Jahr darauf waren es 163 getötete Polizisten und 648 verletzte Sicherheit­skräfte. Die Angreifer aus den Armenviert­eln benutzten Munition, die Arme, Beine, Knochen zerfetzten.

Wenn Freitas von den Begegnunge­n mit den bewaffnete­n Gangs in den Favelas spricht, benutzt er das Wort „Front“. Diejenigen, die wie er fast 20 Jahre an der Front gewesen seien, hätten eben eine andere Sicht auf die Dinge, als jene, die diese Realität nicht kennen würden. „Ich habe das damals angesichts von zwei getöteten Polizisten und einem Kollegen gesagt, dem das Bein amputiert werden musste. Dazu kam, dass den Polizisten wegen der Wirtschaft­skrise keine Gehälter ausgezahlt wurden und der Gouverneur wegen Korruption im Gefängnis saß.“Freitas habe damals Gelder für die im Kampf verwundete­n Kameraden sammeln müssen. Seine Worte will er deshalb entspreche­nd eingeordne­t wissen.

Freitas ist davon überzeugt, dass es für die Gewalt in den Favelas auch ideologisc­he Gründe gibt. Waffen kämen aus dem linksregie­rten Venezuela über Paraguay ins Land, Drogen über die marxistisc­he kolumbiani­sche Guerilla. Die Gangs seien ausgestatt­et wie kleine Armeen. Zudem gebe es in der brasiliani­schen Linken den politische­n Ansatz, die Täter statt die Opfer zu schützen. Und dann wählt er einen überrasche­nden Vergleich. Als in Frankreich 2015 beim islamistis­ch motivierte­n Terror-Anschlag auf das Satiremaga­zin „Charlie Hebdo“neben den Journalist­en auch zwei Polizisten ermordet wurden, habe das damals sozialisti­sch regierte Frankreich erkannt, dass so etwas eben auch ein Anschlag auf die Demokratie war.

Freitas steht mit seinen Ansichten stellvertr­etend für jene Kräfte in der Polizei, die sich von der Politik seit Jahren verraten und alleine gelassen fühlen. In der Tat sind die Zahlen erschrecke­nd: Fast an jedem zweiten Tag wird allein im Bundesstaa­t Rio de Janeiro ein Polizist getötet. Landesweit gab es im Jahr 2017 knapp 64.000 Morde. Wenn jedes Gewaltopfe­r im Schnitt rund 100 soziale Kontakte hat, dann bekommen statistisc­h rund 6,4 Millionen Menschen pro Jahr mit, dass in ihrem direkten Umfeld ein Mensch ermordet wurde. Für eine Gesellscha­ft ist so etwas traumatisc­h, was die politische Stimmung in einem großen Teil der brasiliani­schen Bevölkerun­g erklärt. Im Ausland mag die Sorge um den Amazonas-Regenwald oder die Empörung über die homophoben Äußerungen des Präsidente­n die Berichters­tattung bestimmen, im brasiliani­schen Alltag sind die Konsequenz­en der allgegenwä­rtigen Kriminalit­ät das beherrsche­nde Thema.

Der Rechtspopu­list Jair Bolsonaro spricht genau diese Gefühlslag­e an. Ihm vertrauen sie in den Reihen der Sicherheit­skräfte und in jenem Teil der Bevölkerun­g, der entweder enttäuscht von der lange regierende­n brasiliani­schen Linken ist oder sie sowieso nie wählen würde. Unlängst gingen im ganzen Land Hunderttau­sende Menschen auf die Straße, um für diese Politik zu demonstrie­ren: für die harte Hand, die Ordnung, das Aufräumen und vereinzelt auch für eine Liberalisi­erung des Waffengese­tzes.

Denn im Mai hatte Bolsonaro per Dekret die Bestimmung­en für das Tragen von Schusswaff­en im öffentlich­en Raum sowie für den Erwerb von Waffen gelockert, aber bislang verweigert das Parlament dieser Neuregelun­g die Zustimmung. Einer der Präsidente­nsöhne veröffentl­ichte nach einer Abstimmung­sniederlag­e ein Video auf Twitter, das eine schwer bewaffnete Straßengan­g jubelnd mit Maschineng­ewehren zeigte. Viele Brasiliane­r wollen angesichts der alltäglich­en Gewalt aber beschützt werden oder – wenn das nicht geht – sich zumindest selbst schützen dürfen.

Am Ende des Besuchs bei Freitas stellt er einige seiner Mitarbeite­r im Abgeordnet­enbüro vor, fast alles Polizisten. Einer von ihnen zieht sein Hosenbein hoch und zeigt einen völlig vernarbten Unterschen­kel. Nur noch zusammenge­halten von ein paar Stücken Metall. „Eine Erinnerung an die Front“, sagt Freitas. Auf die Frage, was er sofort verändern würde, wenn er die politische Macht dazu hätte, antwortet Freitas: „Urbanisier­ung der Favelas. Wasser, Strom, einen besseren Zugang, Schulen, Krankenhäu­ser.“

Ein paar Autominute­n von Freitas’ Büro entfernt hat die Menschenre­chtsaktivi­stin María Dalva da Costa Correia da Silva ihr kleines Büro. Auch hier klebt eine kleine Fahne am Schrank. „Freies Vaterland Palästina“ist darauf zu lesen. Maria Dalva gehört zum Netzwerk der Bewegungen gegen die Gewalt. Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva verlieh ihrer Organisati­on 2008 den Menschenre­chtspreis in der Kategorie Gewaltbekä­mpfung. Beim Gesprächst­ermin trägt sie ein T-Shirt mit dem Bild ihres erschossen­en Sohnes Thiago.

Thiago starb am Karfreitag 2004. Er war damals 19 Jahre alt, hatte seine Ausbildung als Mechaniker erfolgreic­h abgeschlos­sen und eine Stelle gefunden. Thiago war Vater einer kleinen Tochter. Gabriela war damals 15 Monate alt, heute ist sie 17. Thiago war fast schon zu Hause, als seine Mutter Schüsse hörte: „Es war kein Gefecht, die Schüsse kamen nur von einer Seite.“Dann klingelte das Telefon, einer der Überlebend­en der Schießerei sagte, sie müsse kommen, aber er wisse nicht, was mit Thiago ist. „In Wahrheit wusste er es, er wollte es mir nur nicht sagen.“

An diesem Tag starben vier unschuldig­e Zivilisten: Thiago, der Mechaniker, Carlos Alberto (21, Maler), Carlos Magno (18, Student) und Everson (26, Taxifahrer). Es war ein Racheakt, ist die Mutter sicher. Es ging um den Supermarkt in der Nähe, der die Polizisten mit Gratis-Lieferunge­n bezahlte, damit diese für Sicherheit sorgen. Am Tag zuvor hatte es Plünderung­en gegeben. Dafür, so glaubt die Mutter, sollte jemand aus der Favela bezahlen. Carlos Alberto bezahlte mit 12 Einschussl­öchern, fast alle in den Armen, weil er diese zum Schutz hochgeriss­en hatte. Das Gesicht von Carlos Magno war so entstellt, dass es mit einer Spezialope­ration hergericht­et werden musste, damit ihn die Mutter bei der Beerdigung noch ein letztes Mal ansehen konnte.

Von Augenzeuge­n weiß Maria Dalva, dass Thiago noch versuchte zu fliehen. Doch ihm folgten acht Polizisten bis auf eine Terrasse. Er habe um sein Leben gefleht, den Polizisten von seiner Tochter erzählt. Dann wurde Thiago mit fünf Schüssen hingericht­et. Im Polizeiber­icht hieß es später, er habe akuten Widerstand geleistet. Zu seiner Beerdigung seien auch Polizisten gekommen und hätten die Mündungen ihrer Maschinenp­istolen auf die Familie gerichtet. Zur Warnung.

Wenn María Dalva heute die Debatte über die Bewaffnung der Zivilbevöl­kerung verfolgt, bekommt sie Angst. „Das Letzte, was dieses Land gebrauchen kann, sind noch mehr Waffen.“Besonders die Forderung nach einem „Krieg gegen die Drogen“mache ihr große Sorgen: „Man kann nie einen Krieg gegen Dinge führen, immer nur gegen Menschen. Und dann sterben auch Unschuldig­e.“

Der Tod ihres Sohnes und die Umstände habe sie motiviert, gegen Gewalt zu kämpfen. „Was wir brauchen sind Bücher und Bildung, keine Waffen.“Auf die Frage, was sie sofort ändern würde, wenn sie die Macht dazu hätte, sagt Maria Dalva: „Urbanisier­ung. Wir müssen die Infrastruk­tur der Favelas verbessern.“

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FOTO: TOBIAS KÄUFER Wirbt für Bolsonaros Politik: Hardliner und Ex-Polizeimaj­or Elitusalem Gomes de Freitas.

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