Eine Schule für den Künstler im Kind
Vor 100 Jahren besuchten in Stuttgart erstmals Schüler eine Waldorfschule. Entgegen mancher Kritik überzeugt das pädagogische Konzept des Begründers Rudolf Steiner Eltern wie Kinder bis heute – nicht nur in Deutschland.
Die Deckenlampe ist aus, zwischen den Fenstern, durch die etwas Tageslicht scheint, hängen gestickte Muster in bunten Farben; die Kinder wickeln Wollstränge um ihre Finger. Vorne liest die Lehrerin Ingrid Steed eine Geschichte. Ab und zu gibt sie Hinweise: „Über’n Daumen, durch das Tal, über’n Zeiger“, so macht man die Acht, aus der das Knäuel wird. Sonst ist alles still. Arbeitsblätter gibt es nicht, die Kinder wickeln nach Anweisung der Lehrerin. Manche sind schon fertig, andere legen am Ende der Stunde nur ein halbes Knäuel in den Korb. „Das machen wir nächste Stunde fertig“, sagt Steed.
Handarbeit-Unterricht in der zweiten Klasse der Rudolf-Steiner-Schule in Düsseldorf, einer von über 1100 Waldorfschulen in der ganzen Welt. Das Fach begleitet die Kinder von der ersten bis zur zwölften Klasse. In der Schule ist es gleichwertig mit künstlerischen und wissenschaftlichen Fächern, so sieht es jene Pädagogik vor, die Rudolf Steiner vor 100 Jahren entwickelte. Am 7. September 1919 wandte der Publizist sie zum ersten Mal in Stuttgart an, bei den Kindern der Arbeiter einer Zigarettenfabrik. Ihr Name: Waldorf-Astoria.
Rudolf Steiner ist bekannt als Begründer der Anthroposophie. Sie geht von der Verbundenheit von Mensch, Geist und Materie aus. Steiner äußerte sich zu vielen Themen, etwa auch zu Religion, Landwirtschaft, Medizin. Als Pädagoge war Steiner der Ansicht, dass Kinder vom „Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife“von Natur aus künstlerische Wesen seien. Daher müsse ein Lehrer dem Kind alles in künstlerischer Weise vermitteln. Das gefiel Emil Molt, dem Inhaber der Zigarettenfabrik in Stuttgart.
In den Schilderungen mancher
seiner Anhänger wirkt Steiner wie eine Mythengestalt. Waldorf-Pädagoge Christof Wiechert etwa, der für das Magazin „Erziehungskunst“schreibt, berichtet, wie Steiner einen schwächlichen Jungen, der nur 15 Minuten Unterricht am Tag ertrug, in nur zwei Jahren reif fürs Gymnasium gemacht habe. Heute sind längst nicht alle Waldorf-Lehrer auch Steiner-Verehrer.
Franz Glaw zum Beispiel, der in Düsseldorf unterrichtet, nimmt von Steiners Lehre „nur das an, was meine eigene Erfahrung bestätigt“. Hierzu zählt er die Vermittlung von Urteilsfähigkeit. In einer Übung hat Glaw beispielsweise Schülern die Aufgabe gegeben, eine Sitzung im Landtag nachrichtlich zusammenzufassen. Dabei mussten die Jugendlichen selbst entscheiden, was relevant ist. Eine schwierige Aufgabe, aber Leistungsdruck wird Waldorfschülern selten schlaflose Nächte bereiten, denn Noten werden erst ab der 13. Klasse vergeben. Umfragen zeigen, dass Schüler an Waldorfschulen sich weniger gestresst fühlen als die an staatlichen.
Praxisorientierte Ansätze wie die von Franz Glaw sind Eckpfeiler der Waldorfpädagogik. Sie sollen nicht nur bestimmte Fähigkeiten vermitteln, sondern ganzheitlich zur Entwicklung des Menschen beitragen. Daher stehen handwerkliche, künstlerische und intellektuelle Fächer auf gleicher Ebene. Das zieht viele Eltern an, manche schreckt es aber auch ab. Sie stellen sich die Frage, ob ein Schüler sich mit einem Waldorfschul-Abschluss später im Leben und der Arbeitswelt der Wirtschaft zurechtfinden kann. Doch zunächst sprechen die Fakten für Waldorfschulen: 2017 gingen dort 55 Prozent aller Schüler mit Hochschuloder Fachhochschulreife ab, im Vergleich zu 34 Prozent an sämtlichen anderen Schulen.
Allerdings spielt die Herkunft von Waldorfschülern keine unerhebliche Rolle: Ihre Eltern sind meist gebildet und verdienen gut. Trotz aller Integrations-Bemühungen melden Geringverdiener selten ihre Kinder bei Waldorfschulen an. Grund hierfür ist unter anderem, dass für den Unterricht Beiträge zu entrichten sind, denn die Schulen werden nur zu 75 Prozent öffentlich getragen. Im Durchschnitt zahlen Eltern in Deutschland daher 200 Euro im Monat pro Kind. Zwar mindern Waldorfschulen Beiträge für einkommensschwache Familien in der Regel, aber die Kosten werden einige trotzdem abschrecken.
Waldorfschulen messen ihren Erfolg weniger an der Qualität der allgemeinbildenden Abschlüsse. Vielmehr wollen sie die sozialen Kompetenzen der Schüler entwickeln und Fähigkeiten vermitteln, mit denen die Heranwachsenden allen Lebenssituationen begegnen können. Fachliche Kenntnisse sind weniger Zweck, als die Fähigkeit, Kenntnisse selbständig zu erwerben. Deshalb wird Waldorfschülern beim Abgang auch ein Portfolio mitgegeben, das über ihre Noten hinaus auch Praktika, Projekte und ehrenamtliches Engagement ausführt. Dies soll die Erfolgschancen in der Arbeitswelt und an höheren Bildungseinrichtungen verbessern.
Dass Waldorfschulen einen allgemeinbildenden Abschluss als Nebenziel betrachten, darf man kritisieren. Und nach 100 Jahren Waldorfpädagogik werden in Rudolf-Steiner-Schulen teilweise Lehrmethoden angewendet, die in der Universitäts-Didaktik als veraltet gelten. So wird öfter auf Frontalunterricht gesetzt, in der der Lehrer die Klasse als Plenum leitet.
Auch das Fach Eurythmie bleibt Alleinstellungsmerkmal der Waldorfschulen: Die Kunstform, die abschätzig „seinen Namen tanzen“genannt wird, soll durch Bewegungen und Gesten das Innere ausdrücken. Auch Sprache und Laute werden von Eurythmisten choreographisch verarbeitet. Bei Vorstellungen tragen sie bunte Gewänder, die beim Tanzen flattern und schweben. Das Fach wird ab der ersten Klasse unterrichtet und soll die Ausdrucks- und Willenskraft fördern. Immerhin: In Deutschland sind Bachelor und Master of Arts in Eurythmie staatlich anerkannte Studienabschlüsse.
Trotz der Kritik sind Waldorfschulen heiß begehrt. Von 100 Bewerbern pro Jahr erhalte nur ein Drittel einen Platz an der Waldorfschule Düsseldorf, sagt Geschäftsführerin Britta Treuel. Zu den Neuzugängen in den ersten Klassen kommen auch einige Quereinsteiger hinzu, teilweise fanden sie sich an anderen Schulen nicht zurecht. Allerdings sind Waldorfschulen keine Förderschulen: Kinder mit Lernbehinderung „kriegen wir zum Teil mitgezogen“, sagt Britta Treuel, aber sie werden eher an spezielle Förderschulen weitergeleitet. Kinder mit körperlichen Behinderungen seien leichter zu integrieren.
Besondere Begabung wird freilich auch nicht gezielt gefördert: Da Schüler nicht nach Leistung getrennt würden, sei die Spanne innerhalb der Klassen ziemlich groß, erläutert Britta Treuel. Wichtiger ist die familiäre Atmosphäre: Klassenverbände bleiben von der ersten bis zur 13. Klasse beisammen, Sitzenbleiben gibt es nicht, und ein Klassenlehrer begleitet die Schüler bis zur achten Klasse. Zudem bekommen Erstklässler einen Paten aus der achten Klasse. Auf dem Gelände der Düsseldorfer Schule befinden sich ein Bioladen und ein Geschäft für Schulmaterial und Spielzeuge, die zu einem Dorf-in-der-Schule-Gefühl beitragen sollen.
In Schweden werden alle Schulen zu 100 Prozent vom Staat gefördert. Dort hat Waldorfpädagogik ein ähnliches Image wie in Deutschland. Im boomenden China werden Waldorfschulen von wirtschaftlichen Aufsteigern dominiert, die ihren Sprösslingen eine Alternative zum Drill geben wollen, den sie selbst erlebt haben. Inzwischen stehen 32 der über 1100 Schulen weltweit in China. 2004 erst gab es erst
eine. Rudolf Steiners Lehren verschmelzen hier mit denen von Buddha und Konfuzius. In den USA sind Waldorfschulen beliebt bei Software-Entwicklern im Silicon-Valley, die ironischerweise begrüßen, dass Waldorfschulen die Präsenz von Technik im Alltag von Schülern einschränken.
Schon länger setzen Waldorfschulen auf Interkulturalität – damit gehen sie auf Distanz zu Steiners Ansichten von der Überlegenheit weißer Menschen, die in der Anthroposophie bitter nachhallt. Deshalb starteten Waldorfschulen zum Jubiläum der Gründung vor 100 Jahren mehrere Projekte, die sich über den Globus spannten: Jede Schule verschickte 1100 Postkarten an die Waldorfschulen in der Welt. Die Rudolf-Steiner-Schule in Düsseldorf hat ein Lied aufgenommen, das anderswo in die jeweilige Muttersprache übersetzt wird.