Rheinische Post Hilden

Bloß keine Renaissanc­e der Praxisgebü­hr

- VON ANTJE HÖNING

In einem Punkt hat Kassenarzt-Chef Andreas Gassen recht: Die Deutschen gehen zu oft zum Arzt. In den meisten EU-Ländern kommen die Bürger mit deutlich weniger Besuchen aus, den Balten reichen sogar halb so viele. An der Diagnose, die Experten schon vor Jahrzehnte­n stellten, hat sich also nichts geändert: Das deutsche Gesundheit­ssystem leidet gleichzeit­ig an Über-, Unter- und Fehlversor­gung. Immer wieder wird versucht, die Patientens­tröme zu steuern. Die Praxisgebü­hr, mit der sich Ministerin Ulla Schmidt einst unbeliebt machte, war dazu jedenfalls nicht geeignet. Sie kassierte Patienten nur ab, ohne eine lenkende Wirkung zu entfalten.

Ähnlich wirkungslo­s dürfte die Pille sein, die nun Gassen gegen volle Wartezimme­r verschreib­t. Er will eine Zwei-Klassen-Gesellscha­ft unter Kassenpati­enten errichten: Wer viel zahlt, darf sich beliebig viele Fachärzte aussuchen. Wer wenig zahlt, darf erstmal nur zum Hausarzt. An dem grundsätzl­ichen Problem ändert das nichts, dass bei der medizinisc­hen Versorgung die Gesetze des Marktes nicht funktionie­ren. Allzu oft schafft sich das Angebot selbst seine Nachfrage – und zwar vor allem bei Fachärzten. Welcher Patient sagt schon nein, wenn der Arzt eine ergänzende Untersuchu­ng hier oder vorsorgend­e Therapie dort empfiehlt? Kein Wunder, dass Deutschlan­d Europameis­ter bei Rücken-, Hüft- und Knie-Operatione­n ist. Dieses Problem würde nur ein System lösen, das konsequent auf Selbstbete­iligung setzt. So würde man auch die (hypochondr­ischen) Patienten treffen, die mit überflüssi­gen Arzt-Besuchen die Wartezimme­r blockieren. Umso wichtiger ist es, dass Patienten bei planbaren Eingriffen eine kostenlose Zweitmeinu­ng einholen können. Damit wird wenigstens etwas Wettbewerb um gute Versorgung geschaffen. Dieses Recht darf den Kassenpati­enten nicht genommen werden.

BERICHT ÄRZTECHEF WILL PRAXISWAHL BEGRENZEN, TITELSEITE

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