Was ist bürgerlich?
Elf Lösungsworte in Längen zwischen fünf und 15 Buchstaben bietet die Kreuzworträtsel-Hilfe im Internet für den Begriff „bürgerlich“an: solid, zivil, solide, bieder, geordnet, bourgeois, etabliert, angepasst, ordentlich, konservativ, mittelständisch. Ratefüchse sind damit bestens bedient. Der Rest der Republik spürt der Bedeutung des Adjektivs erheblich angestrengter nach, seit sich die AfD angesichts beachtlicher Wahlerfolge in Sachsen und Brandenburg zur „bürgerlichen Oppositionspartei“und zu „Vertretern des Bürgertums“aufgeschwungen hat. So jedenfalls formulierte es der Parteivorsitzende Alexander Gauland, natürlich mit der Absicht, die gebeutelten Christdemokraten einmal mehr zu piesaken. Tatsächlich war die Abwehrreaktion der CDU heftig: Eine „bürgerliche Koalition“mit der AfD? Nicht mit uns!
Wer oder was aber ist eigentlich bürgerlich? Und warum wird ausgerechnet ein relativ schwammiger Begriff in der politischen Auseinandersetzung gerade zu einem ziemlich scharfen Instrument?
Halten wir fest: Es gibt Großbürger, Kleinbürger und Spießbürger. Bildungsbürger, Mitbürger, Wahlbürger und neuerdings auch Wutbürger. Nicht zu vergessen den Gutbürger, den vor allem jene Gastronomen im Blick haben, die vornehmlich Schweinshaxe mit Knödeln oder Bratwürstel mit Sauerkraut auf ihre Speisekarte schreiben. Alles in allem also eine recht bunte Truppe, in der Bürger auftauchen, die exzellente Manieren besitzen, und solche, die gar keine haben. Das Spektrum reicht vom armen Schlucker bis hin zu Leuten, die über reichlich altes Geld verfügen. In bürgerlichen Wohnstuben finden sich Bauhausmöbel ebenso wie Gelsenkirchener Barock. Im Übrigen zeichnen bürgerliche Tugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit oder Sauberkeit auch
Menschen aus, die ansonsten absolute Widerlinge sind. Kurzum: Das Terrain ist unübersichtlich.
Hinzu kommt: Bürgerlichkeit behagt nicht allen. Es gibt Vorbehalte. Bei den Jungen löst Gesetztes, Geregeltes oder Beharrendes oft Unbehagen aus, wenngleich diese Tendenz abnimmt und es sich häufig um ein vorübergehendes Phänomen handelt. 1968 waren es die Studenten, die dem Bürgertum vorhielten, durch sein Dasein und Sosein Adolf Hitler nicht nur nicht verhindert, sondern seiner Vernichtungsmaschine erst die tödliche Präzision verliehen zu haben. Eine antiautoritäre Welle brandete durchs Land, auf der Individualisten, Selbstverwirklicher und Aussteiger surften.
Heute nun wird heftig darüber gestritten, wer für sich reklamieren darf, die Bürgerlichen im Volk zu repräsentieren, und wer womöglich frevelt, sobald er dies wagt. Das Bürgerliche erscheint demnach wieder eher als Hort der Guten, der Fleißigen, der Vernünftigen, die sich noch dazu untereinander irgendwie alle einig sind. Ein magisches Kraftzentrum, auf das man sich berufen kann, ohne groß begründen zu müssen, warum.
Dabei finden sich durchaus Merkmale des Bürgerlichen, die dessen Wesen deutlicher hervortreten lassen und die in der aktuellen Debatte das Zeug haben, die Spreu vom Weizen zu trennen. Als im Mittelalter die Städte wuchsen, tauchte in einer von Adel, Kirche und Bauern geprägten Gesellschaft ein neuer Typus auf: der Bürger. Er verfügte über Grundbesitz, zahlte dafür Steuern und genoss ein relativ selbstbestimmtes Dasein. Stadtluft machte frei, und in dieser bürgerlichen Freiheit konnte der Zweifel an der althergebrachten Legitimierung von Macht keimen.
Es sollten noch ein paar Jahrhunderte vergehen, bis die Französische Revolution die Privilegien des Adels und des Klerus hinwegfegte, dafür war die Zäsur umso heftiger. Die Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“brachte
Bürgerliche Tugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit oder Sauberkeit können auch absolute Widerlinge auszeichnen