Sekundenglück mit Grönemeyer
Beim Heimspiel in der ausverkauften Fußball-Arena auf Schalke ließ sich der Sänger von 50.000 Fans feiern. Und redete dem Land ins Gewissen: „Keinen Rassismus! Keinen Millimeter nach rechts!“
GELSENKIRCHEN Alle sind Bochum. Menschen aus dem ganzen Ruhrgebiet finden sich an diesem wunderbaren Abend in dem Lied wieder, das Herbert Grönemeyer der Stadt seiner Kindheit und Jugend gewidmet hat, dem Lied, mit dem er sich und die Stadt vor 35 Jahren im deutschsprachigen Raum weltberühmt gemacht hat. 50.000 Menschen, die die ausverkaufte Arena auf Schalke in Gelsenkirchen füllen, fühlen sich in diesen Zeilen zu Hause, gehen darin auf, gehen lautstark mit: „Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt.“Der Sänger, der schon vor langer Zeit weiter gezogen ist in die großen Metropolen, den die Menschen hier aber immer als einen der ihren erkennen werden, könnte jetzt so lange im Applaus baden wie er mag. Er steht einfach da, setzt sein berühmtes verdutztes Gesicht auf und genießt. Das ist wohl, was man Sekundenglück nennt.
Mit „Sekundenglück“, dem Eröffnungssong seines aktuellen Albums „Tumult“eröffnet er auch die Tour-Station Gelsenkirchen, die alle außer vielleicht Menschen aus Bochum, die ihre Fußballschals mitgebracht haben, als Heimspiel erleben werden. Die Euphorie ist sofort riesig, Hände gehen in die Höhe, tausend Münder singen mit, Herbert Grönemeyer macht ordentlich Meter, rennt an die Bühnenränder, auf den Steg, peitscht die Stimmung an, ruft atemlos: „Los jetzt!“In diesem Moment muss man sich kurz vergewissern: Das ist nicht die Zugabe. Das ist die Eröffnung des Konzerts eines 63-jährigen Künstlers mit einem neuen Song. Normalerweise würde ein Publikum jetzt langsam warm werden, an Bier oder Apfelschorle nippen und denken: „Wann kommen endlich die alten Sachen?“
Doch Herbert Grönemeyer ist ein perfektes Beispiel dafür, wie man nicht zur lebenden Legende erstarrt, sondern für das aktuelle Werk genauso gefeiert wird wie für frühere Großtaten. „Sekundenglück“ist nicht nur musikalisch auf der Höhe der Zeit. Auch textlich übertrumpft der Song all die Max Giesingers, Mark Forsters oder Revolverhelden, indem er ihr Hauptthema der Feier des Augenblicks, des Hier und Jetzt, noch einmal verfeinert. „Sekundenglück“ist die neue perfekte Welle der deutschen Popmusik – gerade deshalb, weil sie nicht leicht zu kriegen ist: „Es ist die Stille der Gefühle / Ein lauer Sommer, der durch mich fährt“. Man muss immer einen Moment nachdenken über Grönemeyers Bilder, aber dann erstrahlen sie in voller Schönheit.
Wie er das nun macht, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, dafür geben Lieder wie „Bleibt alles anders“und „Zeit, dass sich was dreht“Erklärung: Herbert Grönemeyer gibt sich offen dem Strom der Zeit hin, genießt den Wandel, verändert sich mit und bleibt sich gleichzeitig treu. Zehn neue Songs mutet er seinen glückstaumelnden Fans nicht zu, sondern feiert sie mit ihnen. Und daneben zeigt er mit den alten Sachen, wie er seiner jeweiligen Zeit immer schon ein Stück voraus war: „Männer“und „Was soll das“, die in einer Art Medley ineinander übergehen, kann man heute als feministische Meisterstücke lesen, die Geschlechterklischees und geschlechtsspezifische Sozialisierung hinterfragen, Rollenbilder aufbrechen. „Stück vom Himmel“von 2007 könnte der Soundtrack für die Generation Greta sein: „Die Erde ist freundlich / Warum wir eigentlich nicht?“
Das ist allerdings noch keine Erklärung für die riesige Welle der Liebe, die ihm an Abenden wie diesem entgegenschlägt. Die liegt eher darin begründet, dass er sich so ungemein sympathisch und unbeirrbar moralisch gibt.
Der niederländische Star-Fotograf Anton Corbijn hat 1993 für das Album-Cover von „Chaos“wahrscheinlich die schlechtesten Fotos seiner Karriere geschossen – weil Herbert Grönemeyer einfach null Glamour-Faktor hat. Die Bilder sehen aus wie Schnappschüsse zweier Freunde, die am Meer spazieren gehen. Tatsächlich sind die beiden Freunde geworden. Und auch die 50.000 Menschen allen Alters im Stadion auf Schalke verzeihen dem Sänger jeden Fehler wie einem guten Freund, erkennen ihn dadurch als geerdeten Typen.
Ordentlich Sympathiepunkte erntet er zum Beispiel als er emphatisch die Menschen des Ruhrgebiets preist, ihr Herz, ihre Integrationsleistung, und plötzlich merkt, dass der dazu gehörige Song „Doppelherz“noch gar nicht dran ist. Eine andere Predigt sitzt dafür umso besser: Vor „Bist du da“sagt Herbert Grönemeyer eindringlich: „Ich kannte das eigentlich nur aus Erzählungen wie das ist, wenn die Stimmung plötzlich umschlägt. Wir brauchen keinen Rassismus. Wir brauchen kein Geschwätz. Keinen, aber wirklich keinen Millimeter nach rechts!“, und erntet Jubel und riesigen Applaus. Im Zugabenblock folgen gleich zweimal das Fußballlied „Oh wie ist das schön“, die unvermeidliche „Currywurst“, ein ironisch gebrochenes „Flugzeuge im Bauch“, ein tanzwütiger „Mambo“. Das alles müsste ewig so weiter gehen. Und das tut es ja auch – mit den Ohrwürmern nach dem Aufwachen am nächsten Morgen.