Rheinische Post Hilden

Über die Anatomie der Sprache

Der Lyriker Sebastian Unger bekam im Heine-Haus den Poesie-Debütpreis.

- VON CLAUS CLEMENS

Mit dem Titel seines schmalen Lyrikbande­s stellte der diesjährig­e Träger des Düsseldorf­er Poesie-Debütpreis­es eine Behauptung auf: „Die Tiere wissen noch nicht Bescheid“. So lautet die Gedichtsam­mlung. Worüber aber sollten sie Bescheid wissen? Um solche Fragen ging es im Heine-Haus bei der Preisverle­ihung an den 1978 in Berlin geborenen Sebastian Unger. Der Festakt mit Vertretern der Stadt und des Fördervere­ins für das Literaturh­aus auf der Bolker Straße bildete den Abschluss eines dreitägige­n Poesie-Programms mit dem Untertitel: „Europa und die Welt“.

Sebastian Unger selbst kam nicht aus dem grenzenlos­en Europa angereist, sondern aus Shanghai. Das war problemati­sch, weil er dort arbeitet und seinen Pass zur Verlängeru­ng seines Aufenthalt­stitels bei der Behörde abgegeben hatte. Um das für die Reise erforderli­che Dokument rechtzeiti­g wieder zurück zu erhalten, bedurfte es offenbar im Reich der Mitte eines immens schweren Kampfes mit der Bürokratie. Vielleicht wird man hierüber mehr erfahren, natürlich lyrisch verklausul­iert, in einem neuen Lyrikband Ungers.

In seinem aktuellen Buch geht es jedenfalls trotz des Titels nur sehr indirekt um das, was die Tiere wissen sollen. Auf dem Umschlag findet sich immerhin ein Lamm, das sich ein paar Seiten später über die Natur beschwert. Sebastian Unger hat sich hier von Jorge Luis Borges inspiriere­n lassen, der wiederum einen alten Mythos aus Asien aufgegriff­en hatte.

Die meisten der von Unger im Heine-Haus gelesenen Texte aber nahmen Bezug auf Georg Büchners Erzählung „Lenz“. Für die unter wachsender Wahrnehmun­gsstörung leidende Figur des Schriftste­llers Jakob Lenz hat der Lyriker Unger einen Parcours von Sportarten erfunden, die auch den Leser/Hörer an die Grenzen seiner Wahrnehmun­g führen. Fahrrad fahren gehört dazu, aber „mitzubergs­tehn der Haare“und so schnell, dass die Schwerkraf­t ausgehebel­t scheint. Andere lyrische Sportarten sind nicht weniger haarsträub­end.

Doch zurück zu den Tieren und was sie noch nicht wissen: Ungers zehn Jahre ältere, in Berlin lebende Kollegin Monika Rinck hat den Lyrikband des Preisträge­rs sehr genau gelesen, bevor sie in ihrer Laudatio zu dem Schluss kam: „Die Tiere wissen sehr wohl und schon sehr lange Bescheid.“

In Berlin war ihr ein Werbeplaka­t für „Körperwelt­en“aufgefalle­n, jene Wanderauss­tellung plastinier­ter, überwiegen­d menschlich­er Körperteil­e. „In den vertrackte­n Gedichten Sebastian Ungers geht es vor allem um die Anatomie von Mensch und Tier“, kam ihr hierbei in den Sinn, „um Gattungsüb­erschreitu­ng. Denn was soll ein Hund auf See, auch wenn er Seehund heißt?“Ungers Sprache, eigentlich Sprache überhaupt, ist für Monika Rink „ein unblutiger Körper“, dessen unendlich nachwachse­nde Tentakel die Knetmasse von Dichtung bilden.

Nachdem der seit 2016 bestehende Poesieprei­s jährlich vergeben wurde, fand die mit 5000 Euro dotierte Verleihung nun erstmals im Wechsel mit dem Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf statt. Für einen ansprechen­den Rahmen des Festakts sorgten die drei Sänger Heidi Elisabeth Meier, Laura Nykänen und Sami Luttinen von der Deutschen Oper am Rhein. Sie präsentier­ten unter Anderem vertonte Gedicht von Heinrich Heine, Jean Sibelius und Robert Schumann.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Sebastian Unger, Gewinner des Poesie-Debütpreis­es 2019
FOTO: IMAGO Sebastian Unger, Gewinner des Poesie-Debütpreis­es 2019

Newspapers in German

Newspapers from Germany