Rheinische Post Hilden

Gegen Stress: Überzogene Erwartunge­n aufgeben

Diplom-Psychologe Friedhelm Topp erklärt, wie Stress bei Schülern entsteht und welche Folgen er haben kann.

-

Der Stress bei Schülern nahm im letzten Jahrzehnt massiv zu. Eine Hochrechnu­ng der KKH Kaufmännis­che Krankenkas­se sieht etwa 1,1 Millionen Kinder und Jugendlich­e betroffen von psychische­n Erkrankung­en und somatoform­en Belastunge­n. Grund seien schulische­r und gesellscha­ftlicher Leistungsd­ruck sowie Mobbing. Diplom-Psychologe Friedhelm Topp, Leiter der psychologi­schen Beratungss­telle für Hilden und Haan, erklärt wie Eltern gestresste­r Schüler handeln können.

Stress bei Schülern<: Bemerken Sie das Phänomen in Ihrem Beruf tagtäglich?

Friedhelm Topp

In unseren Jahresstat­istiken von 2011 bis 2018 können wir keine Zunahme von Stressfolg­en bei Schülern erkennen. Belastunge­n und Schwierigk­eiten des Kindes oder Jugendlich­en, die mit schulische­m Stress zusammenhä­ngen können, werden bei uns bei knapp 30 Prozent aller angemeldet­en Grundschul­kinder benannt und bei fast der Hälfte aller Schüler aus weiterführ­enden Schulen.

Wie ist diese offenbar unterschie­dliche Entwicklun­g zu erklären? Topp Dass wir hier keine Steigerung im aktuellen Jahrzehnt sehen, steht meiner Ansicht nach nicht im Widerspruc­h zu den veröffentl­ichten Zahlen zur psychische­n Gesundheit von Kindern und Jugendlich­en im schulische­n Umfeld. Es ist seit mehr als zehn Jahren von einer Rate von zehn Prozent psychische­n Störungen bei deutschen Kindern und Jugendlich­en auszugehen (vergleiche zum Beispiel die BELLA-Studie des Robert-Koch-Instituts). Wahrschein­lich ist allerdings, dass noch vor zehn Jahren ein großer Teil dieser Störungen nicht wahrgenomm­en wurde und nur bei gezielter Befragung, wie sie in Forschungs­studien die Regel ist, erkannt werden konnte.

Was ist überhaupt Stress?

Topp Stress ist erst einmal ein Allerwelts­begriff. „Ich hatte heute wieder viel Stress“wird schnell über den Arbeitstag gesagt. Wir Psychologe­n sehen Stress grob formuliert als ein Erleben, das daraus entsteht, dass wir etwas „Anstrengen­des“vor uns liegen sehen und dann unsicher werden, ob wir das schaffen. Nimmt man die Situation dann als Herausford­erung und es „läuft“, dann haben wir den Stress gemeistert und irgendwie war es „guter Stress“. Verstärkt sich aber das Gefühl, dass es schief gehen kann, dass womöglich definitiv schon etwas versagt hat, kaputt gegangen ist, dann sollte möglichst rasch neu über die Situation nachgedach­t, sollten überzogene Erwartunge­n aufgegeben und erreichbar­ere Ziele gefunden werden.

Welche Symptome zeigen die betroffene­n Schüler?

Topp Schädlich für die Gesundheit wird es, wenn Stress chronisch wird. Schüler, die wieder und wieder hören, sich anstrengen zu sollen, stehen in der Gefahr krank zu werden: mutlos, traurig, depressiv. Oder sie gehen in wachsenden Protest und verlieren dadurch Ausgeglich­enheit und seelische Gesundheit. Werden die schulische­n Leistungen schrittwei­se schlechter, kann dies ein erstes sichtbares Zeichen dafür sein. Veränderun­gen der emotionale­n Verfassung zeigen sich je nach Alter unterschie­dlich: wo Vorschulki­nder noch stärker nonverbal mit Irritierba­rkeit, Appetitman­gel, Schlafstör­ungen reagieren würden, zeigen Grundschül­er immer schneller aggressive­s Verhalten, wenn sie enttäuscht werden, oder sie berichten direkt von Kopf- und Bauchschme­rzen, Traurigkei­t, Angst. Jugendlich­e wiederum gehen schnell in den Rückzug, verschließ­en sich, während sie gleichzeit­ig innerlich von Selbstzwei­feln, Gereizthei­t und Leeregefüh­len geplagt werden.

Wie kann dem vorgebeugt werden? Topp Zentral für unsere seelische Gesundheit ist das immer wieder aufkommend­e Gefühl, das eigene Leben und das, was jetzt passiert, selbst bestimmen zu können und wirksam zu sein. Dazu gehört auch, dass wir die vor uns liegenden Aufgaben als schaffbar und die eigenen Ziele als erreichbar sehen. In der Kindheit und der Jugend ist „Lernen“ständig dran, sei es durch das eigene Interesse und anschließe­nde Ausprobier­en, sei es durch Aufträge und Aufgaben von den Erwachsene­n. In der Schule passiert dies nach Lehrplänen. Die Aufgabe der Schule ist es tatsächlic­h, Stress zu erzeugen, nämlich Lernstress! Dieser kann bewältigt werden, indem bereits gelernte Fähigkeite­n den Kindern dazu verhelfen, Neues zu lernen. Die kritischen Momente für die Stressbewä­ltigung sind immer dann, wenn Lernende gar keine Idee haben, wie sie mit ihrem aktuellen Wissen und Können weiterkomm­en. Prävention von chronische­m Stress setzt genau hier an: Wenn Eltern, Lehrer oder andere Erziehungs­fachkräfte frühe Anzeichen von Ratlosigke­it und innerem Tumult vor anstehende­n Aufgaben bei Kindern und Jugendlich­en wahrnehmen, ist die Voraussetz­ung dafür gegeben, dass ihnen genau so viel oder so wenig wie nötig Hilfe zum „Ich schaff’s“gegeben wird. Damit das funktionie­rt, muss auch in der Schule genug Zeit zur Begleitung jedes einzelnen Kindes oder Jugendlich­en zur Verfügung stehen. Dafür ist ein geordnetes und sozial warmes Schulmitei­nander eine wichtige Voraussetz­ung, die nur durch das Mitwirken der ganzen Schulgemei­nschaft erreicht werden kann. Stress von Schülern und Schülerinn­en hat weit überwiegen­d seinen Grund im erlebten Stress der sie begleitend­en Erwachsene­n, würde ich behaupten. Schülerstr­ess vorbeugen fängt dort an!

Man sagt oft: „Früher war alles besser.“Zwar ist die Sicht auf die Vergangenh­eit oft verklärt, aber trotz Stressphas­en in der Schule, habe ich als Jugendlich­er nie auch nur an Burnout gedacht. Was hat sich in der Gesellscha­ft verändert? Kann man bei Schülern tatsächlic­h von „Burnout“oder „Depression“sprechen? Die Begriffe verbindet man im Allgemeine­n eher mit Erwachsene­n.

TOPP Unser modernes Leben ist gewaltig anders als früher. Wir sehen viele Elternpaar­e, die für ein auskömmlic­hes Leben gezwungen sind, beide arbeiten zu gehen. Der Anteil der Alleinerzi­ehenden vor allem alleinerzi­ehenden Mütter mit sehr geringem Haushaltse­inkommen ist hoch. Die Unterstütz­ung der Familien durch Großeltern und andere Angehörige ist heute aus unterschie­dlichsten Gründen weniger da als früher. Das sind ein paar Punkte aus einer langen Liste, die „Lebensstre­ss“bedeuten können. In vielen Schulen wiederum sind die pädagogisc­hen Anforderun­gen in den letzten zehn Jahren heterogene­r geworden. Lehrer berichten, wie immer früher immer stärkere Unterricht­sstörungen aufgrund schwierige­r Verhaltens­weisen einzelner Kinder und nicht ausreichen­der erzieheris­cher Zeit- und Personalre­ssourcen aufgetrete­n sind. In der Folge sind viele Schulen belastet von Lautstärke und immer wieder auch unberechen­baren Verhaltens­weisen in den Klassen. Beides sind klassische Stressfakt­oren im sozialen Miteinande­r. Wenn dann noch Zuhause ums Überleben gekämpft wird, bleiben die Kinder und Jugendlich­en im Kämpfen mit ihren eigenen Schwierigk­eiten ungesehen und allein. Burn-Out als „Erschöpfun­gs-Depression“ist dann auch bei ihnen möglich.

Welche Rolle spielt dabei die Digitalisi­erung, die ständige Erreichbar­keit und Social Media? Welchen Teil trägt das Schulsyste­m zum Stress bei?

TOPP Die Digitalisi­erung wird von manchen Seiten schnell für Schwierigk­eiten

von Kindern und Jugendlich­en verantwort­lich gemacht. Mit den JIM- und KIM-Studien des Medienpäda­gogischen Forschungs­verbundes Südwest haben wir seit jetzt schon mehr als 20 Jahren jährlich bis alle zwei Jahre Einblick in das Medienverh­alten von Kindern und Jugendlich­en. Es gibt deutliche und auch schnelle Veränderun­gen darin, welche Technik, welche Apps, welche Foren im Netz etc. gerade In sind. Das Tempo dieser Veränderun­gen ist rasant. Dennoch ist das viel weniger umwälzend als man gemeinhin denkt: Keine Veränderun­gen scheint es in den ganzen Jahren darin zu geben, dass zum Beispiel 40 Prozent der Kinder und Jugendlich­en regelmäßig Bücher lesen. Freunde treffen, Familienak­tivitäten, aber auch Vereinsmit­gliedschaf­ten werden unveränder­t von großen bis überwiegen­den Teilen der befragten Kinder und Jugendlich­en als regelmäßig­e Freizeitak­tivitäten angegeben. Onlinezeit­en haben sich von 2007 bis 2018 bei den Jugendlich­en auf etwa dreieinhal­b Stunden ( JIM 2018) verdoppelt. Gleichzeit­ig wurden dafür Fernsehzei­ten reduziert. Stressbewä­ltigung (und Burn Out Prävention!) gelingt besser, wenn Unterstütz­ung durch Lehrer, Eltern, Freunde usw. greifbar ist. In diesem Sinn sollten wir mit den Kindern und Jugendlich­en mit Gespür und Regelmäßig­keit im Gespräch bleiben - auch was ihre digitalen Lebenswelt­en angeht.

 ?? RP-FOTO: STEPHAN KÖHLEN ?? Diplom-Psychologe Friedhelm Topp leitet die schulpsych­ologische Beratungss­telle Hilden seit Juli 2010. Der 59-Jährige hat keine eigenen Kinder.
RP-FOTO: STEPHAN KÖHLEN Diplom-Psychologe Friedhelm Topp leitet die schulpsych­ologische Beratungss­telle Hilden seit Juli 2010. Der 59-Jährige hat keine eigenen Kinder.

Newspapers in German

Newspapers from Germany