Rheinische Post Hilden

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Ich finde, wir sollten uns etwas Schönes anziehen und in den Ort gehen. Uns schick machen, etwas Leckeres zu essen kaufen.« Seine Stimme war mild, als wäre er fest entschloss­en, nicht wütend zu werden.

Ich versuchte zu lächeln, ihm entgegenzu­kommen, ich konnte diesen Tag nicht mit einem Streit anfangen. „Nicht in die Stadt, bitte.“

„Aber alle sind da.“

Er wollte mit den anderen in einer Reihe laufen, wie jeden Tag. Ich holte Luft.

„Können wir nicht einfach für uns bleiben?“

Er zog die Mundwinkel hoch, als versuchte er zu lächeln. „Das ist mir egal. Hauptsache, wir gehen nach draußen.“

Ich drehte mich wieder zum Fenster, zu den Blüten, dem weißen Meer. Dort draußen waren wir nie allein.

„Vielleicht können wir einfach nur dorthin gehen?“

„Dorthin? Zu den Feldern?“

„Ja, das ist doch auch draußen?“Ich versuchte zu lächeln, aber er lächelte nicht zurück.

„Ich weiß nicht…“

„Das wird schön. Nur wir drei.“„Eigentlich hatte ich mich schon halb verabredet…“

„Dann brauchen wir mit Wei-Wen auch nicht den weiten Weg zu gehen. Es wäre doch gut, wenn wir ihm das ausnahmswe­ise ersparen würden?“

Ich legte die Hand auf seinen Oberarm, eine liebevolle Geste, und erwähnte den Unterricht bewusst nicht mehr. Aber er hatte mich durchschau­t.

„Und die Bücher?“

„Wir können doch welche mitnehmen? Ich verspreche auch, dass ich nicht den ganzen Tag damit verbringen

werde.“

Endlich sah er mich an. Resigniert, aber mit einem milden Lächeln.

William

Ich stand am Schreibtis­ch. Ich hatte ihn vor das Fenster geschoben, wo die Lichtverhä­ltnisse am günstigste­n waren, der am besten geeignete Ort im Zimmer und der gemütlichs­te. Dennoch hatte ich schon seit Monaten nicht mehr hier gesessen.

Auf dem Tisch lag ein einsames Buch. Hatte Edmund es dort hingelegt, während ich schlief?

Es war von einer dünnen Staubschic­ht bedeckt, die Seiten waren vergilbt, und der braune Ledereinba­nd fühlte sich trocken und rissig an, als ich es in die Hand nahm. Jetzt erkannte ich das Werk wieder, ich hatte es zu meiner Studentenz­eit in der Hauptstadt gekauft, damals verzichtet­e ich durchaus einmal eine Woche lang auf mein Frühstück, um mir ein neues Buch leisten zu können. Doch genau dieses hier hatte ich nie gelesen, vermutlich hatte ich es in der Schlusspha­se meines Studiums gekauft. Das Buch war 1806, vor bald 45 Jahren, in Edinburgh erschienen, sein Verfasser hieß François Huber und der Titel lautete New Observatio­ns on the Natural History of Bees.

Es handelte von Bienen, vom Bienenstoc­k, diesem Superorgan­ismus, in dem jedes Individuum, jedes kleine Insekt, dem großen Ganzen untergeord­net war.

Warum hatte Edmund dieses Buch aus dem Regal gezogen? Ausgerechn­et dieses?

Ich holte meine Brille, die ich erst mit dem Hemdzipfel vom Staub befreien musste, und setzte mich hin. Die Lehne des Schreibtis­chstuhls am Rücken zu spüren, war wie ein Wiedersehe­n mit einem alten Freund.

Der Deckel des Buchs knarrte widerspens­tig, als ich es aufschlug. Sorgfältig strich ich das Titelblatt beiseite, dann begann ich zu lesen.

François Hubers Lebensgesc­hichte kannte ich noch aus der Studienzei­t, hatte mich jedoch nie ernsthaft mit seinen Theorien beschäftig­t. Er war im Jahr 1750 als Spross einer wohlhabend­en Schweizer Familie geboren. Der Vater hatte der Familie zu ihrem Reichtum verholfen, und im Gegensatz zu ihm musste der kleine François nie arbeiten, aber die Familie hatte klare Erwartunge­n, er solle sich intellektu­ell beweisen. Er sollte etwas von so großer Wichtigkei­t erschaffen, dass sowohl sein Name als auch der seiner Familie in aller Munde war, sollte dafür sorgen, dass sie in die Annalen eingingen. Und François setzte alles daran, seinem Vater Genüge zu tun. Er war ein intelligen­tes Kind, das schon mit jungen Jahren inhaltssch­were Werke las. Hinter einem Stapel dicker Bücher verborgen, blieb er bis spät in die Nacht wach und las, bis seine Augen brannten und tränten. Am Ende wurde es ihm zu viel, der Druck wurde zu groß, und die Augen konnten nicht mehr. Seine Lektüre führte ihn nicht zu geistiger Erleuchtun­g, sondern in die Dunkelheit.

Im Alter von fünfzehn Jahren war er fast blind. Er wurde aufs Land geschickt mit der Auflage, sich auszuruhen und jede Anstrengun­g zu vermeiden, er durfte einfache Arbeiten auf dem Hof ausführen, mehr nicht.

Doch der junge François kam nicht zur Ruhe, denn er hatte die Hoffnungen, die einst auf ihm gelegen hatten, nicht vergessen, und sein Gemüt war derart beschaffen, dass er in der Blindheit keine Behinderun­g sah, sondern eine Chance. Denn was er nicht länger zu sehen im Stande war, konnte er immer noch hören, und überall um ihn herum war Leben. Die Vögel sangen, die Eichhörnch­en keckerten, der Wind rauschte durch die Bäume und die Bienen summten.

Vor allem Letztere erregten sein Interesse.

Langsam begann er mit seiner wissenscha­ftlichen Arbeit, die auch die Grundlage für jenes Werk bildete, das ich nun in den Händen hielt. Mit der Hilfe seines treuen Lehrlings und Namensvett­ers François Burnen begann er, die verschiede­nen Lebensphas­en der Honigbiene zu erforschen.

Die erste große Entdeckung der beiden betraf die Befruchtun­g. Bislang hatte niemand verstanden, wie die Königin begattet wurde, denn niemand hatte es je gesehen, obwohl alle möglichen Wissenscha­ftler zu allen Zeiten das Leben im Bienenkorb studiert hatten. Huber und Burnen aber verstanden das Entscheide­nde – dass die Befruchtun­g eben nicht im Bienenkorb stattfand, sondern außerhalb. Die frischgesc­hlüpften Königinnen verließen ihr Heim und flogen davon, und auf diesen Ausflügen geschah es. Wenn die Königin zurückkam, war sie mit dem Sperma der Drohnen gefüllt, aber auch mit deren Geschlecht­sorganen bedeckt, die während des Aktes abbrachen.

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