Im Reichstag geboren
In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs wurde der Parlamentssitz zur Entbindungsstation. Am Sonntag begrüßte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble 14 dieser Kriegskinder an ihrem Geburtsort.
BERLIN Der Raum ist voll. Alles ist ein wenig unübersichtlich. Und doch fällt Mareile Van der Wyst gleich auf. Das liegt weniger an ihrem glitzernd-grünen Oberteil, sondern eher an ihrer Begleitung. Ehemann Ralph hat sich eine Krawatte in den Farben der amerikanischen Flagge umgebunden. Um seine Frau an ihren Geburtsort zu begleiten. In den Berliner Reichstag.
In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs wurde ein Bunker im damals zerstörten Reichstag zur Entbindungsstation. Historiker vermuten, dass Adolf Hitler werdende Mütter aus der benachbarten Charité hierhin bringen ließ – zum Schutz vor den nächtlichen Bomberangriffen. Zwischen 1943 und 1945 kamen hier Kinder zur Welt. Wie viele, weiß keiner so genau. Wenn es jemals Listen gab, sind sie in den Kriegswirren verloren gegangen. Doch 14 von ihnen sitzen am Sonntagmorgen im Clubraum an der Abgeordnetenlobby des Deutschen Bundestags. In ihren Geburtsurkunden findet sich der Hinweis „im Reichstagsgebäude geboren“.
Viele der Anwesenden hatten sich erst jetzt auf Zeitungsannoncen gemeldet, in denen für einen Festakt mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) nach den „Reichstagsbabys“gesucht wurde. Van der Wyst hingegen ist den Rummel schon gewohnt. Die Interviews. Das Interesse an ihrer Person. 1999 war sie zur feierlichen Neueröffnung des Reichstagsgebäude geladen. Van der Wyst ist stolz auf ihren Geburtsort. „Das ist etwas ganz Besonderes“, sagt sie.
Immer wieder durfte sie in den vergangenen Tagen ihre Geschichte erzählen. Geboren im Reichstag, verheiratet mit einem Amerikaner, der am Flughafen Tempelhof stationiert war und in der Nähe mit drei Kollegen ein mexikanisches Restaurant führte. Mareile bewarb sich als Kellnerin. Sie bekam den Job. 1971 heiratete sie Ralph.
Am Sonntag sitzen die Van der Wysts an einem Tisch ganz vorne an der Theke des Clubraums und haben beste Sicht auf Wolfgang Schäuble, der neben ihnen seine Begrüßungsrede hält. Er erinnert an die wechselhafte Geschichte des Reichstags. Einer Geschichte von Krieg, Zerstörung und demokratischem Neuanfang. „Das Symbol, dass hier Leben entstanden ist, ist fantastisch“, sagt er. „Selbst in den tiefsten Stunden: Es geht immer weiter.“Schäuble, Jahrgang 1942, ist älter als die „Reichstagsbabys“im Raum.
Noch älter ist nur Annemarie Lehmann. „Sie ist die einzige Mutter, die sie noch gefunden haben“, sagt ihre Tochter Heidi Mangino. Mangino lebt mittlerweile mit ihrem Mann in den USA, Lehmann noch immer in Berlin. Als einzige im Raum kann Lehmann noch berichten, wie es war.
Sichtlich gerührt steht sie neben Schäuble und erzählt ihre Geschichte. Eine Hand am Stock, die andere von der Tochter gestützt. „Wir waren damals eine Gruppe von werdenden Müttern, die sich im Bunker getroffen haben“, sagt Lehmann. Sie sei die jüngste gewesen. Als in der Nacht die Wehen kamen, wurde eine Hebamme aus der nahen Reichskanzlei gerufen. Alles sei gut gelaufen. Morgens kamen Mutter und Kind ins Krankenhaus. „Ich bin so stolz, dass ich meine Tochter hierhin begleiten kann“, sagt die 95-Jährige.
Die letzte „Reichstagsmutter“wird mit ihrer Berliner Schnauze zum Star der Veranstaltung und kostet das Treffen mit dem Bundestagspräsidenten voll aus. „Ich habe mit Ihnen gleich Blickkontakt gesucht. Haben Sie das gemerkt?“, fragt sie Schäuble zum Abschied. „Natürlich“, gibt er zurück.
Das letzte Wort gebührt wieder Mareile Van der Wyst. Sie hat einen Antrag mitgebracht. Sie wünscht sich, dass im Bundestag eine Gedenktafel für die „Reichstagsbabys“angebracht wird. So solle man dem gedenken, was die 74-Jährige „Hitlers einzig gutes Werk in seinem Leben“nennt. Am Mittag wolle sie ihren Antrag den übrigen 13 zur Unterschrift herumreichen. Ihre Idee kommt an. Bei Schäuble. Und den anderen „Reichstagsbabys“.
Van der Wyst hat die Aufregung der letzten Tage genossen. Die Inszenierung, das Spiel mit der Aufmerksamkeit. All das liegt ihr. Doch irgendwann sei es mal gut. „Ich bin auch froh, wenn am Montag alles erstmal vorbei ist“, sagt sie. Was ihr bleibt, ist das lebenslange Besuchsrecht im Reichstag. In „ihrem Reichstag“.