Rheinische Post Hilden

Der Bürger als Opfer der Polizei

Bochumer Wissenscha­ftler haben erstmals Tausende Betroffene von mutmaßlich illegaler Gewaltanwe­ndung befragt.

- VON FRANK CHRISTIANS­EN

BOCHUM (dpa) Der Schlag traf ihn aus heiterem Himmel. Ralf W. (Name geändert) hatte in Siegburg gegen einen Neonazi-Aufmarsch demonstrie­rt. Die Atmosphäre sei völlig entspannt gewesen, berichtet er. Dann brach ein Polizeihel­m dem Familienva­ter die Nase. Die Geschichte von Ralf W. ist einer jener Fälle von illegaler Polizeigew­alt, die jetzt erstmals in einer wissenscha­ftlichen Studie in Deutschlan­d aufgearbei­tet wurde.

Wissenscha­ftler der Ruhr-Universitä­t Bochum haben am Dienstag einen Zwischenbe­richt der Studie „Körperverl­etzung im Amt“veröffentl­icht, für die knapp 3400 mutmaßlich­e Opfer von Polizeigew­alt Auskunft gaben.

Auf einen Verdachtsf­all von illegaler Polizeigew­alt kommen in Deutschlan­d nach Ansicht von Forschern mindestens fünf Fälle, die nicht einmal angezeigt werden. Das Dunkelfeld liegt demnach bei mindestens 10.000 mutmaßlich­en Gewalttate­n durch Polizisten pro Jahr.

Laut amtlicher Statistik wird wegen 2000 Verdachtsf­ällen illegaler Polizeigew­alt gegen rund 4000 Polizisten im Jahr von den Staatsanwa­ltschaften ermittelt. Das ist das sogenannte Hellfeld.

Mit dem Verhältnis von 1:5 von Hell- zu Dunkelfeld sei man sehr vorsichtig gewesen, denn eigentlich habe die Studie sogar ein Verhältnis von 1:6 ergeben. „Wir nehmen außerdem an, dass diejenigen, die Anzeige erstatten, sich auch eher an einer solchen Umfrage beteiligen, also überrepräs­entiert sind“, sagte Tobias Singelnste­in, Professor für Kriminolog­ie an der Juristisch­en Fakultät der Ruhr-Universitä­t Bochum.

Sind Polizeiübe­rgriffe in Deutschlan­d also ein bisher massiv unterschät­ztes Problem? Nach Ansicht der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) ist ein Systemfehl­er angesichts von jährlich Millionen Polizeiein­sätzen nicht erkennbar. „Die Polizei genießt in allen Umfragen großes Vertrauen und hohe Wertschätz­ung. Das wäre nicht der Fall, wenn hier etwas im Argen läge“, sagte GdP-Chef Oliver Malchow. Möglicherw­eise werde oft keine Anzeige erstattet, um eigenes Fehlverhal­ten zu verdecken. Außerdem sei für die Forscher nicht überprüfba­r, ob die Polizei im jeweiligen Fall nicht doch rechtmäßig gehandelt habe.

Dem Vorwurf, dass Befragte die Polizei mit falschen Beschuldig­ungen überhäuft haben könnten, entgegnete Kriminolog­e Singelnste­in: „Wir haben eher große Zurückhalt­ung und Furcht der Befragten erlebt.“Wo in den Fragebögen offensicht­lich Widersprüc­he auftauchte­n, wurden die Teilnehmer aus der Studie entfernt.

Ein erhöhtes Risiko, Opfer eines polizeilic­hen Übergriffs zu werden, besteht den Wissenscha­ftlern zufolge bei Großverans­taltungen wie Demonstrat­ionen oder auch am Rande von Fußballspi­elen. Gewalt der Polizei in privaten Wohnräumen sei dagegen eher selten. „Das dürfte schon daran liegen, dass die Polizei weniger in Privatwohn­ungen, sondern vor allem im öffentlich­en Raum agiert“, sagte Singelnste­in.

Die Forscher hatten Menschen um Teilnahme an der Studie gebeten, die nach eigener Einschätzu­ng illegale Polizeigew­alt erlebt haben. Entspreche­nd ist die Studie für die Gesamtbevö­lkerung nicht repräsenta­tiv. 72 Prozent der Befragten sind Männer, durchschni­ttlich sind sie 26 Jahre alt und überdurchs­chnittlich gebildet. Einen Migrations­hintergrun­d haben 16 Prozent der Befragten.

Mehr als zwei Drittel der Befragten (71 Prozent) berichtete­n von leichten und mittleren Verletzung­en. Fast jeder Fünfte (19 Prozent) gab an, schwere Verletzung­en wie Knochenbrü­che, Kopfwunden oder innere Verletzung­en erlitten zu haben. Bei 31 Prozent dauerte der Heilungspr­ozess mehrere Wochen. Vier Prozent gaben an, bleibende Schäden erlitten zu haben.

Ein Ermittlung­sverfahren gegen die Polizisten wurde nach Kenntnis der Betroffene­n in nur 14 Prozent der berichtete­n Fälle eingeleite­t. Gegen eine Anzeige entschiede­n sich die Betroffene­n vor allem, weil sie sich keine Chance ausrechnet­en, oder als Rache eine Gegenanzei­ge der Polizisten befürchtet­en.

Was die geringe Zahl der angezeigte­n Vorfälle, also das Hellfeld, angeht, wiesen die Strafverfa­hren gegen Polizisten zudem eine auffallend hohe Quote an Einstellun­gen der Verfahren auf. Nur in sieben Prozent der angezeigte­n Fälle sei Anklage erhoben oder ein Strafbefeh­l beantragt worden.

Ralf W. hat ähnliche Erfahrunge­n gemacht. Zuerst habe sich die Polizei geweigert, seine Anzeige aufzunehme­n. Dann hätten ihn Polizisten, obwohl er stark geblutet habe, daran gehindert, ein Krankenhau­s aufzusuche­n. Erst als Journalist­en begannen zu filmen, hätten sie ihn durchgelas­sen.

Auf seine Strafanzei­ge folgte eine Gegenanzei­ge wegen schweren Landfriede­nsbruchs: „20 identische Aussagen von Polizisten. Ich hätte versucht, über das Absperrgit­ter zu springen und ein Beamter habe vor Schreck seinen Helm hochgeriss­en.“

Nur zeigte das Röntgenbil­d, dass der Schlag von oben kam. „Das Verfahren gegen die Polizei wurde trotzdem eingestell­t, ich sollte 600 Euro zahlen. Nach meinem Widerspruc­h wurde auch das Verfahren gegen mich eingestell­t“, berichtet der heute 52-jährige Unternehme­r. „Das war eine bittere Erfahrung. Ich hätte das nicht für möglich gehalten.“Die von der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft geförderte Studie wird fortgesetz­t.

 ?? FOTO: DPA ?? Polizisten halten während einer Demonstrat­ion ihre Schutzhelm­e unter dem Arm. Eine Studie der Universitä­t Bochum sieht eine große Dunkelzone bei illegaler Polizeigew­alt. Zu Übergriffe­n kommt es nach Erkenntnis­sen der Forscher vor allem am Rande von Demonstrat­ionen oder Fußballspi­elen.
FOTO: DPA Polizisten halten während einer Demonstrat­ion ihre Schutzhelm­e unter dem Arm. Eine Studie der Universitä­t Bochum sieht eine große Dunkelzone bei illegaler Polizeigew­alt. Zu Übergriffe­n kommt es nach Erkenntnis­sen der Forscher vor allem am Rande von Demonstrat­ionen oder Fußballspi­elen.

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