Mit 90 alt, mit 60 älter
Die „Generation 60+“birgt das Wissen unserer Zeit. Der Preis des Alters: Die Reparatursysteme des Körpers funktionieren nicht mehr bei jedem gleich gut. Ist Altern eine Krankheit?
DÜSSELDORF Jeder Mensch erlebt mehr als nur einmal den Moment, dass ihm die verrinnende Zeit seines Lebens morgens im Spiegel begegnet. Da, die Lichtung an der Stirn! Dort, die grauen Haare! Aber auch sonst: Die Augen werden trüb, die Ohren flau, die Haut knittert, die Gelenke schmerzen, die Knochen knirschen. Und irgendwann merkt man, dass einem die Leute zum Geburtstag „vor allem Gesundheit“wünschen. Als ob das Altern zwangsläufig mit Krankheiten einhergeht.
Oft ist das ja auch der Fall. Irgendwann ist der Handwerkskasten unserer DNA leer, die Autokorrektur funktioniert nur noch eingeschränkt. Zusehends wird der Mensch baufällig. Dabei wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, dass er seiner selbst gewahr wird und sich sagt: Gut, die Zeit scheint irgendwie schneller zu laufen als früher, also brauche ich eine bessere Planung, wie ich mein Alter gestalte. Damit die Freude über die Früchte, die ich noch ernte, die Zipperlein, die mit den Jahren entstehen, überwiegt.
„Ist Altern eine Krankheit?“So fragte jetzt ein spannender Abend im Düsseldorfer Haus der Universität, zu dem Ethikkommission und Klinisches Ethikkomitee der Heine-Uni eingeladen hatten. Den Impulsvortrag hielt Andreas Kruse, der renommierte Heidelberger Altersforscher. Er hielt ihn mit todesgewisser Fröhlichkeit. Einmal rief er listig-ironisch: „Biologisch sind 135 Jahre möglich. Allerdings schafft die kaum einer.“Woran es liegt? Natürlich an jenem Verfall, aber auch an den Krankheiten, die oft durch Entzündungsvorgänge im Körper begünstigt werden. Wir könnten, so Kruse, aber Kluges unternehmen, um den Körper zu stabilisieren. Die meisten Rezepte kennen und lesen wir täglich bis zum Überdruss: mehr Bewegung, bewusster essen, genug trinken, nicht mehr rauchen, Freundschaften pflegen.
Optimisten werden älter als Grübler. Trotzdem heißt es bei manchem 96-Jährigen in der Todesanzeige, er sei „plötzlich und unerwartet“gestorben. Leichtsinn? Anmaßung? Oder Ausdruck einer wunderbaren Leichtigkeit in den späten, den sogenannten „gesegneten“Jahren?
Die Frage, wann das Alter beginnt, ist schwer zu beantworten. Der Körper, so Kruse, unterliegt einem fortwährenden Gestaltwandel, doch gerade im sogenannten Alter (also der Phase ab 60) gibt es eine faszinierende Streuung der Erscheinungen: Dem 84-Jährigen, der rüstig und fidel zum Chor geht und sogar noch Erektionen verspürt, steht der 63-Jährige gegenüber, der sich mit Mühe die Treppe hochkeucht und dessen Haut von seinen Zigaretten mitgenommen aussieht. Mancher ist heilfroh, wenn er mit 63, nach 38 Jahren Kanalbau, in den Vorruhestand gehen kann, ein anderer wird unruhig, wenn er nicht mit 69 noch irgendwo Chefarzt sein kann (was nicht verkehrt ist, sofern es sich um eine Koryphäe handelt, die Wissen nicht bunkert, sondern weitergibt).
Das Alter ist also mitnichten eine düstere Phase unserer Existenz, nicht der Vorgarten des Todes, sondern ein unübersichtliches Terrain, bei dem uns viel Gestaltungsfreiheit eingeräumt wird. Frei von den Belästigungen des Arbeitslebens kann jetzt die Veredelung des Lebens beginnen. Doch dazu kommt es halt oft nicht, weil der Mensch krank wird. Wo also anfangen?
Bei der Bildung, sagt Kruse. Eine italienische Studie hat ergeben, dass ein Mensch desto weniger pflegebedürftig wird, je mehr Schuljahre er erlebt hat. Klugheit macht gesund oder mindestens robust, könnte man sagen – und tatsächlich stimmt das auch. Töricht also, wer seine Wissbegier irgendwann beerdigt. Lebenslanges Lernen stimuliert das Gehirn und das Immunsystem. Kluge Menschen betreiben indes auch Vorbeugung. Was macht mein Zahnfleisch? Könnte ich vielleicht den Wagen häufiger stehen lassen? Gehe ich zur Hautkrebs-Vorsorge?
Sartre sprach von der „Absurdität der Existenz“. Diese These beinhaltet viel Wahres, aber dass nun ausgerechnet das Alter die katastrophische Epoche sein soll, ist schwer Erich Kästner Schriftsteller
zu glauben, trotz aller Gebrechen. Wichtig scheint es, sagt Kruse, „die todbringenden Krankheiten“ans Lebensende zu verschieben. Als ob das so leicht planbar ist! Doch tatsächlich hängt alles nicht nur mit dem Leib zusammen, sondern auch mit der Seele. Die Verletzlichkeit des Menschen ist sein Stigma, doch gerade seine Reife könnte ihm helfen, das Phänomen des Ausgeliefert-Seins mit Sorge und Einsicht zu kontern. Dazu zählt die Sorge der Älteren für die Jüngeren, also als Weitergabe von Zuwendung und Lebenswissen, zugleich die Sorge für sich selbst als Bereitschaft, etwa die Segnungen der modernen Medizin anzunehmen. Die Tiefenhirnstimulation ist gewiss ein komplizierter, aber mittlerweile routiniert durchgeführter neurochirurgischer Eingriff etwa an Universitätskliniken, der die Symptome eines Parkinson-Kranken deutlich lindern kann. Hier finden die Möglichkeiten der Apparatemedizin, die ihr menschliches Gesicht nicht verliert, wie in einer Punktladung zusammen.
Das funktioniert, sagt Kruse, indem wir das Alter ansprechen, damit uns vor dem Alter nicht bang wird. Oder, wie der Schriftsteller Erich Kästner sagte: „Liebe das Leben und denke an den Tod!“Damit die positive Hinwendung zum Leben in höherem Alter gelingt, bedarf es natürlich der Einsicht der Instanzen. Ältere und alte Menschen brauchen mehr Unterstützung durch den Staat, keinesfalls dürfen sie auf dem Standstreifen der Lebensautobahn geparkt werden. Kruse berichtete von der umfassenden Heilswirkung, die die bauliche Nähe eines Altenheims und eines Kindergartens mit sich bringen kann. Jedenfalls kommt bei immer mehr alten Menschen, die durch medizinischen Fortschritt auch noch immer älter werden, auf den Staat eine gestalterische Mammutaufgabe zu.
Natürlich gibt es Krankheiten, die unerträglich scheinen, beispielsweise eine zunehmende Alzheimer-Demenz oder ein schweres Krebsleiden. Hierbei gelangen alle an ihre Grenzen – die Patienten, die Angehörigen, die Ärzte. Und es gibt viele Fragen, die allerdings auch positive Antworten erfahren, etwa durch die Palliativmedizin. Wer einmal erlebt hat, wie ein schwer Krebskranker auf einer Palliativstation durch ausgeklügelte und weitreichende Therapie nicht nur schmerzfrei werden, sondern auch eine gewandelte Form von Glück im Sinne einer finalen Lebensqualität erleben darf, wird das Wort von den Qualen, für die es angeblich keine Linderung gibt, nur noch sehr vorsichtig verwenden.
So besorgt einem das Alter manchen Schmiss. Doch erweist es sich auch als Gewinn, als Trost für den Unfug, den man in den Jahren zuvor ertragen musste – auch wenn man sich morgens im Spiegel in einem Zustand vorfindet, den man sich früher nicht ausgemalt hat. Um mit Kästner und Kruse zu sprechen: Mit dem Ausmalen sollte man früh beginnen, dann erträgt man die Realität später umso leichter.
„Liebe das Leben und denke an den Tod!“