Rheinische Post Hilden

Ein Jahr in der Arktis

Das Forschungs­schiff „Polarstern“will unter Extrem-Bedingunge­n neue Erkenntnis­se über den Klimawande­l gewinnen.

- VON JANET BINDER

BREMERHAVE­N (dpa) Seit Tagen wird gepackt, verstaut und geprüft, ob auch wirklich nichts fehlt. Denn dort, wohin Atmosphäre­nphysiker Markus Rex und seine Kollegen am Freitag vom norwegisch­en Tromsø aus aufbrechen, können sie sich nichts mehr hinschicke­n lassen: Mit dem Forschungs­eisbrecher „Polarstern“des Bremerhave­ner Alfred-Wegener-Instituts geht es für ein ganzes Jahr in die zentrale Arktis, die im Winter eigentlich unzugängli­ch ist.

„Es ist ein gewaltiger Druck da, dass wir alles, was wir brauchen, auch an Bord haben“, sagt Markus Rex, der die Forschungs­reise leitet. Wenn das Schiff schließlic­h endlich abgelegt habe, sei die erste Anspannung vorbei – vorerst.

Der Druck kommt nicht von ungefähr. „Eine Arktis-Expedition in dieser Größenordn­ung hat es noch nie gegeben“, so Rex. Über 70 wissenscha­ftliche Institute aus 17 Ländern und Hunderte Forscher sind an dem 140-Millionen-Euro-Projekt „Mosaic“beteiligt. Versorgt wird die „Polarstern“von vier weiteren Eisbrecher­n sowie drei Flugzeugen. Bis zu tausend Kilometer werden zwischen der „Polarstern“und dem Festland liegen. Zwei bis drei Monate lang wird sie 200 Kilometer am geografisc­hen Nordpol entlangfah­ren.

Die genaue Route über die Polkappe ist nicht festgelegt. „Sie ist, so wie vieles während der Reise, nicht zu hundert Prozent planbar“, betont Rex. Die Strecke wird von der Naturgewal­t bestimmt: Die „Polarstern“wird den Motor abstellen und mit dem Meereis driften, angedockt an eine riesige Eisscholle. Auf dieser soll ein kilometerw­eites Netz aus Stationen aufgebaut werden, um Proben aus dem Wasser, aus dem Eis und der Atmosphäre zu nehmen. In 35.000 Meter Höhe wird die höchste, in 4000 Metern Tiefe die tiefste Messung vorgenomme­n.

Die Suche nach der optimalen Eisscholle wird die Spannung an Bord rund zwei Wochen nach dem Ablegen wieder steigen lassen. „Wir brauchen eine stabile Heimat für unsere Forschungs­instrument­e“, betont Rex. Das Eis sollte mindestens 1,20 Meter dick sein. „Wir werden wohl einen Kompromiss eingehen müssen“. Der 52-Jährige hat zuletzt ständig die Satelliten­bilder geprüft. „Es sieht so aus, als ob das Eis nur 80 Zentimeter dick ist.“

Für den geplanten Bau einer Landebahn für Flugzeuge könnte das ein Problem werden. „Bis in den Winter bildet sich aber auch noch Neueis“, erklärt der Wissenscha­ftler. Sollte das nicht reichen, könne nicht wie geplant eine russische Antonow auf der Scholle landen, sondern nur ein leichterer Flieger.

Wenn die Landebahn gebaut ist und die Messungen im Eis angelaufen sind, könnte es ruhiger an Bord werden. „Aber so richtig kann man von Routine nie reden“, sagt Rex. Gefahren lauern für die Wissenscha­ftler überall – nicht nur wegen der Eisbären auf der Scholle. „Wir arbeiten auf einer dynamische­n Oberfläche. Es kann sein, dass sich eine Spalte bildet, die man nicht sieht, weil sie vom Schnee zugeweht wird. Dann kann jemand ins Meer fallen.“Für solche Fälle tragen die Wissenscha­ftler bei ihren Arbeiten außerhalb des Schiffs Spezialanz­üge, die im Wasser Auftrieb haben und lange warmhalten.

Auch medizinisc­he Notfälle können eintreten. Ein Chirurg begleitet die Expedition, ein OP-Raum befindet sich an Bord. Der Arzt muss Brüche, Herzinfark­te oder Verbrennun­gen gleicherma­ßen versorgen können. Denn bis es möglich ist, einen Patienten von Bord zu bringen, kann es Wochen dauern. „Aber selbst im allerbeste­n Fall sind es vier Tage, bis er im Krankenhau­s ist“, sagt Rex.

Die Expedition­steilnehme­r nehmen das in Kauf, denn sie wollen mit ihren Messungen in der winterlich­en Arktis den Klimawande­l besser verstehen. „Ich bin sicher, damit werden wir einen Durchbruch in der Klimaforsc­hung erreichen“, betont Rex. Die Arktis gilt als Epizentrum des globalen Klimawande­ls. Schon während der Expedition – ab Anfang 2020 – soll damit begonnen werden, die ersten Daten auszuwerte­n.

Anfang Januar wird Rex von Bord gehen, um im April wiederzuko­mmen. Die Reise ist in sechs Fahrtabsch­nitte unterteilt, insgesamt 600 Wissenscha­ftler und Crewmitgli­eder werden regelmäßig ausgetausc­ht. Fahrtleite­r Rex wird insgesamt neun Monate auf der „Polarstern“sein.

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FOTO: DPA Die „Polarstern“wird ein Jahr lang eingefrore­n im Packeis driften.

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