Der Seenotretter, der einst selbst gerettet wurde
Die „Ocean Viking“ist das größte Rettungsschiff im Mittelmeer. Zur Crew zählt ein Ägypter, der vor 15 Jahren selbst vor dem Ertrinken bewahrt wurde.
AN BORD DER „OCEAN VIKING“(AP) Jedes Mal, wenn Hassan Ali Salem einen verzweifelten Migranten aus dem Mittelmeer zieht, durchlebt er sein eigenes Trauma noch einmal. Denn der Ägypter erlitt nach eigenen Angaben 2004 im Alter von 16 Jahren auf der Flucht selbst Schiffbruch und wurde von einem anderen Migranten gerettet. Als ihr überfüllter Kahn auf dem Weg nach Italien dann bei rauer See kenterte, ertrank sein Retter. Inzwischen ist Salem 31 und hilft seinerseits bei der Rettung von Migranten, die von Libyen in viel zu unsicheren Booten Richtung Europa aufbrechen.
Salem ist einer von 22 Helfern unterschiedlicher Nationalitäten, die für die humanitären Organisationen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen an Bord der „Ocean Viking“arbeiten – dem derzeit größten Seenotretter im zentralen Mittelmeer. Ziel des unter norwegischer Flagge fahrenden Schiffs sind internationale Gewässer nördlich von Libyen, wo schon ausende Migranten bei verzweifelten Versuchen ertrunken sind, Europa zu erreichen. „Sobald ich ihre Haut berühre, kommen die Erinnerungen an damals“, sagt Salem. „Ich sage mir: „Du hast es geschafft, ein weiterer Hassan ist angekommen. Er lebt.“
Einfach ist die Arbeit nicht: „Die Leute an Land haben keine Vorstellung von dem, was wir sehen“, sagt die 31-jährige Claire Faggianelli, eine Bootsmechanikern aus Frankreich, die schon als Tauchlehrerin und ehrenamtliche Rettungsschwimmerin gearbeitet hat. Die Einsätze der Hilfsorganisationen haben in Europa heftige Diskussionen ausgelöst. Kritikern zufolge ermutigen sie nur noch mehr Migranten, die gefährliche Überfahrt aus Nordafrika zu wagen. Doch Faggianelli sagt, viele verlören bei dieser Debatte die humanitäre Tragödie aus den Augen, die sich im Mittelmeer abspiele. „Sehen Sie nicht, was passiert? Hier ertrinken jeden Tag Menschen.“Als Italien 2014 die große Rettungsaktion „Mare Nostrum“ beendete, starteten mehrere Organisationen im zentralen Mittelmeer eigene Rettungseinsätze. Inzwischen wollen die europäischen Regierungen die ungeordnete Migration reduzieren. Italien und Malta liegen der Rettungszone vor Libyen am nächsten und verweigern solchen Schiffen nun routinemäßig die Einfahrt.
„Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, Leben zu retten“, sagt der 54-jährige Charlie Andreasson, ein schwedischer Seemann mit rotem Bart. Er wollte seinen Einsatz eigentlich beenden, doch dann gab ihm die Rhetorik gegen Migranten in seinem Heimatland zu denken. „Die Situation in Europa verschlimmert sich, was Fremdenfeindlichkeit und Rassismus angeht. Deshalb bin ich zurückgekommen“, sagt er.
Einige der Rettungsschwimmer, Mediziner, Studenten und Matrosen an Bord der „Ocean Viking“verbringen nur ein paar Wochen oder Monate auf See, während andere sich seit Jahren engagieren. Streng genommen sind sie keine Ehrenamtlichen: Einige Besatzungsmitglieder gaben an, für ihre Arbeit an Bord zwischen 1000 und 2000 Euro pro Monat zu erhalten.
Die Rettung selbst ist dabei nur ein Teil des Jobs. Sobald die Flüchtlinge sicher an Bord sind, müssen sie auf Verletzungen untersucht werden, die von Verbrennungen durch Benzin bis zu Folterwunden reichen. Frauen sind besonders gefährdet und oft Opfer sexueller Gewalt durch Schlepper in Libyen.
Mary Jo Frawley arbeitet schon lange für Ärzte ohne Grenzen und begann 2015 ihre Arbeit auf Rettungsschiffen. Über die Jahre erlebte sie, wie sich die Schlepperboote von großen Holzkähnen, die an Sklavenschiffe erinnern, zu oft mit Klebeband reparierten Schlauchbooten gewandelt haben. Vor ein paar Jahren hätten sich noch Hunderte Menschen von Wohltätigkeitsorganisationen und kirchlichen Gruppen in den italienischen Häfen versammelt, um die Geretteten zu begrüßen, berichtet die 64-jährige Krankenschwester aus dem US-Staat Vermont. Nun wird den Schiffen die Einfahrt in diese Häfen verwehrt. „Ich glaube, dass diese Menschen und Herzen immer noch dort sind und auf uns warten“, sagt Frawley.
Die Besatzungsmitglieder der „Ocean Viking“betonen, sie befolgten internationales Seerecht. Das verlangt, Menschen in Seenot zu helfen und sie an einen sicheren Ort zu bringen. Internationalen Migrationsund Menschenrechtsorganisationen zufolge ist Libyen kein sicherer Ort, so dass sie nicht dorthin zurück gebracht werden sollten.
„Das Einzige, was wir tun, ist sie zu retten“, sagt auch Salem, der sich vor 15 Jahren ein Leben in Italien aufgebaut und der Seenotrettung verschrieben hat. „Doch was für mich mehr zählt als das Seerecht, sind die Menschenrechte.“