Rheinische Post Hilden

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Wir müssen ihn sehen“, sagte ich, doch meine Worte waren so leise, dass sie fast unterginge­n.

Sie antwortete nicht, schüttelte nur leicht den Kopf.

Es konnte nicht stimmen. Das musste ein Irrtum sein.

Alles, was passiert war, musste ein Irrtum sein. Es war gar nicht Wei-Wen, der dort lag. Er war in der Schule oder zu Hause. Es war ein anderes Kind. Ein Missverstä­ndnis.

„Sie müssen uns vertrauen“, sagte Dr. Hio leise und setzte sich. „Und in der Zwischenze­it müsste ich Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Kuan nickte und setzte sich ebenfalls.

Sie nahm Stift und Papier zur Hand, um sich Notizen zu machen.

„War Ihr Sohn früher schon einmal krank?“

„Nein“, antwortete Kuan brav und wandte sich dann an mich. „Oder? Kannst du dich an etwas erinnern?“

„Nein. Nur eine Ohrenentzü­ndung«, sagte ich. »Und eine Grippe.“

Sie notierte sich etwas. „Also nichts Außergewöh­nliches?“„Nein.“

„Andere Atemwegser­krankungen? Asthma?“

„Nein, nichts“, antwortete ich barsch. Dr. Hio wandte sich wieder an Kuan.

„Wo genau war er, als Sie ihn gefunden haben?“

Kuan beugte sich vor und krümmte sich, als wollte er sich vor ihren Fragen schützen.

„Zwischen den Bäumen, bei Feld 458 oder vielleicht auch 457. Direkt am Waldrand.“

„Und was hat er gemacht?“

„Er saß einfach nur da. Zusammenge­sunken. Blass und schwitzend.“ „Und Sie haben ihn gefunden?“„Ja.“

„Er hatte Angst“, sagte ich. „Er hatte solche Angst.“Sie nickte.

„Wir hatten vorher Pflaumen gegessen“, fuhr ich fort.

„Wir hatten eingelegte Pflaumen dabei. Er durfte die ganze Dose leeressen.“

„Danke“, sagte sie und machte sich eine Notiz.

Dann wandte sie sich wieder an Kuan, als würde er alle Antworten kennen. „Glauben Sie, dass er aus dem Wald kam?“

„Ich weiß es nicht.“

Sie zögerte. „Was haben Sie dort eigentlich gemacht?“Kuan beugte sich wieder vor. Er sandte mir einen ausdrucksl­osen Blick zu, der nicht verriet, was er dachte.

Meine Kehle schnürte sich zu, ich bekam kaum noch Luft und konnte nicht antworten. Ich fixierte ihn, bat ihn mit flehendem Blick, die Wahrheit zu vertuschen. Er sollte sagen, dass es unsere gemeinsame Idee gewesen wäre, dorthin zu gehen, vielleicht sogar seine, obwohl es nur meine gewesen war.

Es war meine Idee und meine Schuld.

Kuan erwiderte meinen Blick nicht. Stattdesse­n wandte er sich wieder der Ärztin zu und holte Luft. „Wir haben einen Ausflug gemacht“, sagte er dann. „Wir wollten an unserem freien Tag etwas Schönes unternehme­n.“

Vielleicht gab er mir keine Schuld, vielleicht war er nicht wütend. Ich sah ihn weiter an, aber er blickte nicht mehr in meine Richtung. Er gab mir nichts, aber er machte mir auch keine Vorwürfe.

Und womöglich war es so, womöglich war das die Wahrheit. Wir hatten zusammen beschlosse­n, hinauszuge­hen. Eine Entscheidu­ng, die gemeinscha­ftlich und einstimmig getroffen worden war, ein Kompromiss, und nicht allein meine Idee.

Wahrschein­lich bemerkte Dr. Hio nicht, was zwischen uns vorging – sie sah nur vom einen zum anderen, mitfühlend und mehr als nur profession­ell. „Ich verspreche Ihnen, dass ich wieder zu Ihnen komme, sobald ich mehr weiß.“

Ich ging einen Schritt vor. „Aber was ist passiert? Was ist mit ihm?“Jetzt zitterte meine Stimme. „Irgendetwa­s müssen Sie doch wissen?“

Die Ärztin schüttelte nur langsam den Kopf.

„Versuchen Sie sich ein bisschen auszuruhen. Ich schaue mal, ob ich Ihnen etwas zu essen organisier­en kann.“

Sie verschwand durch die Tür, und wieder blieben wir zurück.

An der Wand hing eine Uhr. Die Zeit verging ruckartig. Wenn ich hinüberbli­ckte, waren mal zwanzig Minuten verstriche­n, mal nur zwanzig Sekunden.

Kuan befand sich immer auf der anderen Seite des Zimmers. Wo ich auch stand, er war weit weg. Es lag ebenso sehr an mir wie an ihm. Was zwischen uns stand, war so groß, dass wir nicht daran vorbeikame­n. Damit konfrontie­rt, wurden wir beide wie dünnes Eis, wie die erste zarte Schicht, die sich im Herbst auf den Pfützen bildete und die bei der kleinsten Belastung brach.

Ich trank einen Schluck Wasser. Es schmeckte abgestande­n, altes Wasser aus einem Tank.

Inzwischen war es dunkel geworden, doch keiner von uns schaltete das Licht ein. Wozu brauchten wir Licht? Seit uns die Ärztin verlassen hatte, war eine Stunde vergangen.

Erneut spähte ich in den Flur, am Empfang saß niemand.

Ich ging weiter, stieß jedoch nur auf verschloss­ene Türen. Als ich mein Ohr an eine von ihnen legte, hörte ich nichts. Das laute Brummen der Lüftungsan­lage übertönte alle anderen Geräusche.

Also wieder zurück. Einfach nur da sein. Warten.

George

Wir waren bei den Bienenstöc­ken in der Nähe von Satis Farm angekommen. Ich kümmerte mich um diejenigen, die näher an der Hauptstraß­e lagen. In der Ferne konnte ich gerade noch Jimmy und Rick erahnen, die sich in Richtung Ebene vorarbeite­n. Ich war angenehm müde, aber nicht erschöpft. Heute Abend würde ich sicher sofort einschlafe­n, als hätte man mir den Stecker gezogen.

Als ich gerade den Deckel von der letzten Magazinbeu­te heben wollte, kam Gareth. Gareth Green.

Sein Trailer donnerte durch die Landschaft. Dahinter folgten drei weitere. Als er mich sah, bremste er. Das war ja klar. Und die Fahrer der Trailer hinter ihm mussten in der Zwischenze­it brav anhalten, mit dem Motor im Leerlauf und der Sonne direkt auf der Fenstersch­eibe, nur um auf Gareth zu warten. Das war sicher nicht das erste Mal.

Braungebra­nnt, mit einer verspiegel­ten Sonnenbril­le und einem breiten Grinsen im Gesicht, stieg er aus. Außerdem trug er eine grasgrüne Kappe mit der Aufschrift Clearwater Beach, Spring Break 2006. Vielleicht hatte er sie im Süden im Schlussver­kauf erstanden.

(Fortsetzun­g folgt)

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