Systemrelevant
Im Theater ist es üblich, am Ende einer Vorstellung zu klatschen. Danke für eure Mühen, will das Publikum sagen, das habt ihr super gemacht. Glaubt man den Schauspielern, dann tut ihnen das gut, es ist ihnen eine Bestätigung. Ihren Unterhalt aber finanzieren sie mit dem Applaus nicht. Deshalb verkaufen die Theater Eintrittskarten, nicht immer ganz günstig.
Europaweit klatschen manche zurzeit, ohne ein Theater besuchen zu können. Wie in Köln und Düsseldorf öffnen die Menschen ihre Fenster, treten auf den Balkon und applaudieren. Dieser Applaus gilt denjenigen, die in diesen sonderbaren Zeiten unser zivilisiertes Miteinander aufrechterhalten. Denjenigen, die dafür sorgen, dass die Gesellschaft nicht zusammenbricht. Denjenigen, denen man heute plötzlich nachsagt, sie seien systemrelevant.
Systemrelevant, das ist ein Wort, das den Deutschen noch in Erinnerung ist. 2008 war es, die Finanzkrise, als es hieß, diese oder jene Bank sei „too big to fail“. Man müsse sie retten, weil sonst das System zusammenbreche. Diese oder jene Bank sei systemrelevant.
Nun, da die Finsternis einer Pandemie emporgekrochen ist, erleben die Deutschen, wer systemrelevant ist, wenn es um Leben und Tod geht. Es sind Krankenpfleger, Ärzte, Polizisten, Verkäufer, Leute, die sich um den Müll kümmern, um die Netze und die Energie (und einige mehr). Die Gesellschaft verlässt sich, wenn es darauf ankommt, auf Berufsgruppen, die sie – einmal abgesehen von den Ärzten – seit Jahrzehnten schändlich behandelt.
Das beginnt selbstverständlich mit der Bezahlung. Eine Krankenpflegerin in Nordrhein-Westfalen verdient laut Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst durchschnittlich etwa 2800 Euro brutto. Eine Einzelhandelskauffrau etwa 2200 Euro brutto. Nun, wo fast das ganze Land daheim bleiben soll und kann, müssen sie jeden Tag raus. Sie können nicht ins Homeoffice, nicht ein paar Tage freimachen, nicht auf dem Balkon sitzen und sich auf Twitter Konzerte anhören. Diese Leute, verzeihen Sie bitte, retten uns den Arsch.
In der Debatte um zu hohe Gehälter von Managern ist ein beliebtes Argument, dass diese eine deutlich höhere Verantwortung tragen als ihre Angestellten. Unternehmerisch mag das stimmen. Wer in diesen Tagen die höchste Verantwortung trägt, ist aber ziemlich offensichtlich. Es sind die Menschen, deren Kinder eine Notbetreuung besuchen dürfen. Es sind die Menschen, die in Supermärkten ausbaden, was der Rest sich an Unzulänglichkeiten erlaubt. Es sind die Menschen, die in Krankenhäusern Leben retten.
Und es sind ziemlich oft Frauen. Unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt der Frauenanteil laut Bundesagentur für Arbeit in Supermärkten bei 72,9 Prozent. In Krankenhäusern bei 76 Prozent. Und in Kindergärten und Vorschulen bei 92,9 Prozent. Ob die Bezahlung wohl auch so schlecht wäre, wenn so viele Männer dort arbeiten würden?
Sollte dieses Land es nach dieser Krise nicht hinbekommen, die Gehälter dieser systemrelevanten Berufe zu erhöhen, sollte sich jeder Bundesbürger beim nächsten Besuch im Krankenhaus, Supermarkt oder Kindergarten beim Personal persönlich entschuldigen. Aber es gäbe da nichts zu entschuldigen.
Woher das Geld kommen soll? In einem der reichsten Länder der Welt sollte es machbar sein, verantwortungsvolle Menschen verantwortlich zu bezahlen. Politik und Wirtschaft wird etwas einfallen müssen. Es wäre ein Anfang, das Gesundheitssystem aus den Fängen der Privatwirtschaft zu befreien. Ein kapitalistisches Gesundheitssystem strebt nach Gewinn. Ein anständiges Gesundheitssystem strebt nach Gesundheit.
Chefärzte in deutschen Krankenhäusern verdienen laut einer Studie des Personaldienstleisters Kienbaum
Krankenpfleger können nicht auf dem Balkon sitzen und sich Twitter-Konzerte anhören