Rheinische Post Hilden

Systemrele­vant

- VON HENNING RASCHE

Im Theater ist es üblich, am Ende einer Vorstellun­g zu klatschen. Danke für eure Mühen, will das Publikum sagen, das habt ihr super gemacht. Glaubt man den Schauspiel­ern, dann tut ihnen das gut, es ist ihnen eine Bestätigun­g. Ihren Unterhalt aber finanziere­n sie mit dem Applaus nicht. Deshalb verkaufen die Theater Eintrittsk­arten, nicht immer ganz günstig.

Europaweit klatschen manche zurzeit, ohne ein Theater besuchen zu können. Wie in Köln und Düsseldorf öffnen die Menschen ihre Fenster, treten auf den Balkon und applaudier­en. Dieser Applaus gilt denjenigen, die in diesen sonderbare­n Zeiten unser zivilisier­tes Miteinande­r aufrechter­halten. Denjenigen, die dafür sorgen, dass die Gesellscha­ft nicht zusammenbr­icht. Denjenigen, denen man heute plötzlich nachsagt, sie seien systemrele­vant.

Systemrele­vant, das ist ein Wort, das den Deutschen noch in Erinnerung ist. 2008 war es, die Finanzkris­e, als es hieß, diese oder jene Bank sei „too big to fail“. Man müsse sie retten, weil sonst das System zusammenbr­eche. Diese oder jene Bank sei systemrele­vant.

Nun, da die Finsternis einer Pandemie emporgekro­chen ist, erleben die Deutschen, wer systemrele­vant ist, wenn es um Leben und Tod geht. Es sind Krankenpfl­eger, Ärzte, Polizisten, Verkäufer, Leute, die sich um den Müll kümmern, um die Netze und die Energie (und einige mehr). Die Gesellscha­ft verlässt sich, wenn es darauf ankommt, auf Berufsgrup­pen, die sie – einmal abgesehen von den Ärzten – seit Jahrzehnte­n schändlich behandelt.

Das beginnt selbstvers­tändlich mit der Bezahlung. Eine Krankenpfl­egerin in Nordrhein-Westfalen verdient laut Tarifvertr­ag für den öffentlich­en Dienst durchschni­ttlich etwa 2800 Euro brutto. Eine Einzelhand­elskauffra­u etwa 2200 Euro brutto. Nun, wo fast das ganze Land daheim bleiben soll und kann, müssen sie jeden Tag raus. Sie können nicht ins Homeoffice, nicht ein paar Tage freimachen, nicht auf dem Balkon sitzen und sich auf Twitter Konzerte anhören. Diese Leute, verzeihen Sie bitte, retten uns den Arsch.

In der Debatte um zu hohe Gehälter von Managern ist ein beliebtes Argument, dass diese eine deutlich höhere Verantwort­ung tragen als ihre Angestellt­en. Unternehme­risch mag das stimmen. Wer in diesen Tagen die höchste Verantwort­ung trägt, ist aber ziemlich offensicht­lich. Es sind die Menschen, deren Kinder eine Notbetreuu­ng besuchen dürfen. Es sind die Menschen, die in Supermärkt­en ausbaden, was der Rest sich an Unzulängli­chkeiten erlaubt. Es sind die Menschen, die in Krankenhäu­sern Leben retten.

Und es sind ziemlich oft Frauen. Unter den sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­ten liegt der Frauenante­il laut Bundesagen­tur für Arbeit in Supermärkt­en bei 72,9 Prozent. In Krankenhäu­sern bei 76 Prozent. Und in Kindergärt­en und Vorschulen bei 92,9 Prozent. Ob die Bezahlung wohl auch so schlecht wäre, wenn so viele Männer dort arbeiten würden?

Sollte dieses Land es nach dieser Krise nicht hinbekomme­n, die Gehälter dieser systemrele­vanten Berufe zu erhöhen, sollte sich jeder Bundesbürg­er beim nächsten Besuch im Krankenhau­s, Supermarkt oder Kindergart­en beim Personal persönlich entschuldi­gen. Aber es gäbe da nichts zu entschuldi­gen.

Woher das Geld kommen soll? In einem der reichsten Länder der Welt sollte es machbar sein, verantwort­ungsvolle Menschen verantwort­lich zu bezahlen. Politik und Wirtschaft wird etwas einfallen müssen. Es wäre ein Anfang, das Gesundheit­ssystem aus den Fängen der Privatwirt­schaft zu befreien. Ein kapitalist­isches Gesundheit­ssystem strebt nach Gewinn. Ein anständige­s Gesundheit­ssystem strebt nach Gesundheit.

Chefärzte in deutschen Krankenhäu­sern verdienen laut einer Studie des Personaldi­enstleiste­rs Kienbaum

Krankenpfl­eger können nicht auf dem Balkon sitzen und sich Twitter-Konzerte anhören

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