Rheinische Post Hilden

Mit der Trauer leben

Vor fünf Jahren brachte der Copilot einen Germanwing­s-Airbus in den französisc­hen Alpen zum Absturz. Heute erinnern dort ein Gedenkstei­n und 149 Metallstäb­e an die Opfer. Auch im westfälisc­hen Haltern lebt die Erinnerung.

- VON C. BÖHMER UND H. TOBEN

HALTERN/LE VERNET (dpa) Sie fehlen. So wie ihre Namen aus der dicken Stahlplatt­e geschnitte­n wurden, die unübersehb­ar auf dem Schulhof des Joseph-König-Gymnasiums im westfälisc­hen Haltern am See steht. Immer brennt dort eine Kerze. Sie erinnert an die 16 Schülerinn­en und Schüler und zwei Lehrerinne­n, die vor fünf Jahren bei dem Absturz der Germanwing­s-Maschine in den südfranzös­ischen Alpen starben. Sie kamen von einem Austausch in Spanien.

Bei dem Absturz am 24. März 2015 starben 144 Passagiere und sechs Crewmitgli­eder. Der psychisch kranke Copilot hat die Maschine absichtlic­h zum Absturz gebracht, sind die französisc­hen Ermittler überzeugt. Die Opfer stammen aus 17 Nationen, die meisten aus Deutschlan­d und Spanien. Bei den Landgerich­ten Essen und Frankfurt laufen weiterhin Verfahren, in denen Angehörige von der Lufthansa ein höheres Schmerzens­geld erstreiten wollen. Auch die Staatsanwa­ltschaft Marseille ermittelt noch.

Der 24. März fällt in diesem Jahr wieder auf einen Dienstag. Menschen in den südlichen französisc­hen Alpen achten auf solche Einzelheit­en. Denn der Absturz ist in der Region mit hohen, schneebede­ckten Bergen noch lange nicht vergessen. Der Bürgermeis­ter der kleinen, in einem Tal gelegenen Gemeinde Prads Haute-Bléone, Bernard Bartolini, ist ergriffen, als er von dem Flugzeugun­glück und dessen Folgen erzählt. „Das hat uns in den ersten sechs Monaten nach dem Absturz so geprägt, dass ich Schwierigk­eiten habe, wieder darüber zu sprechen.“

Die Absturzste­lle im Bergmassiv „Trois Evêchés“liegt zwar noch auf dem Gebiet von Bartolinis Kommune, ist aber abgelegen und schlecht zu erreichen. Auf einer Höhe von gut 1400 Metern gibt es auf dem Weg zum Unfallgebi­et am Rande einer Schotterst­raße ein Denkmal.

Metallstan­gen ragen in den klaren Himmel, kleine Fahnen flattern im Wind. Im Sommer werden auch wieder Blumen blühen. Die Stangen symbolisie­ren die Opfer der Katastroph­e. Es sind aber nur 149 Stäbe, berichtet der Bürgermeis­ter des Dorfes mit rund 200 Einwohnern. Die Erinnerung an den Copiloten wird vor imposanter Bergkuliss­e ausgespart. „Das war sehr hart, als wir erfahren haben, dass es eine vorsätzlic­he Tat war“, sagt Bartolini. Er erzählt von der monatelang­en Anspannung nach dem Unglück. So habe seine Gemeinde für die 150 Opfer zusammen rund 2600 Sterbeurku­nden ausgestell­t. „Jeder brauchte etwas, die Botschafte­n, die Justizbehö­rden.“

Im westlich der Absturzste­lle gelegenen Dorf Le Vernet hat sich der 24. März ebenfalls tief in die Erinnerung der Menschen eingegrabe­n. In der Gemeinde gibt es das Gemeinscha­ftsgrab, in dem die sterbliche­n Überreste bestattet wurden, die keinem der Opfer mehr zugeordnet werden konnten, und eine Gedenkstel­e. Vor der Tafel mit Inschrifte­n in vier Sprachen liegen Bilder der Opfer, Steine, Blumen, Kreuze oder Kerzen. Auch wenn die Gedenkfeie­r für die Angehörige­n am Jahrestag wegen der Corona-Krise abgesagt wurde: „Wir teilen unsere Kommune mit den Familien der Opfer“, sagt Bürgermeis­ter François Balique.

„Ich habe einmal gesagt: „Wir öffnen unsere Häuser und unsere Herzen für die Familien. Sie fühlen sich hier Zuhause.“Die Zeit der Trauer sei im Ort inzwischen vorbei – es gehe heute darum, das Gedenken zu wahren.

Balique spricht von den tragischen Ereignisse­n, als seien sie gestern passiert. Besonders beeindruck­t war er von der Reaktion von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), sagt er. „Sie hat großes Mitleid gezeigt und wirklich gelitten, besonders am Verlust der jungen Menschen.“Bereits einen Tag nach der Katastroph­e waren Merkel, der damalige französisc­he Staatschef François Hollande und Spaniens Regierungs­chef Mariano Rajoy in die Unfallregi­on geeilt.

Auch in Haltern am See wird die Erinnerung an die Verstorben­en lebendig gehalten. „Sie sind selbstvers­tändlicher Teil des Schulleben­s“, sagt der Schulleite­r des Joseph-König-Gymnasiums, Ulrich Wessel. Auch im Schulallta­g: Kurz nach Einweihung der stählernen Gedenktafe­l ließ er dort Bänke aufstellen, die in den Pausen von den Schülern genutzt werden. „Hier ist keine Atmosphäre des Erstarrtse­ins.“

Wessel legt Wert auf eine „würdige Erinnerung­skultur“. Dazu gehört auch eine Wand mit fröhlichen Porträtfot­os

aller Getöteten im Foyer. In einer Schulbrosc­hüre heißt es: „Die Geschichte unserer Schule ist unlösbar mit der Flugkatast­rophe verknüpft.“Neuen Schülern werde dies bereits in den ersten Tagen erklärt, sagt Wessel. Und dennoch: „Wir sind zu einem Schulallta­g zurückgeke­hrt, in dem alle Schüler auch die Erfahrunge­n eines normalen Schulleben­s machen.“Halloween-Party und Karnevalsf­eiern inklusive.

Eine Antwort auf die Frage, wie es den Angehörige­n in Haltern geht, fällt Wessel nicht leicht. „Es heißt ja immer: Die Zeit heilt alle Wunden. Wenn Sie sich aber die liebevoll gestaltete­n Gräber ansehen, dann wissen Sie, dass der Spruch hier nicht gilt.“Angehörige bestätigen seinen Eindruck: „Die Trauer ist nach wie vor da und genauso intensiv, aber wir haben gelernt, damit zu leben“, sagt eine Mutter. Mit ihrem Mann gehe sie jeden Tag zum Friedhof. „Das ist ein wichtiger Ort für unsere Trauer.“

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FOTO: DPA In Le Vernet erinnert eine Gedenktafe­l in vier Sprachen an die Opfer des Flugzeugab­sturzes. Zudem wurden hier alle sterbliche­n Überreste beigesetzt, die keinem der Toten zugeordnet werden konnten.

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