Rheinische Post Hilden

„Wir sind in der Krise, nicht im Krieg“

Die Psychologi­n sagt, die Großstadt Düsseldorf ist ein guter Ort, um die Pandemie zu überstehen.

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Frau Birnstein, Sie arbeiten in der Altstadt als Diplom-Psychologi­n, coachen unter anderem Paare. Wie viel Abstand halten Sie zu Ihren Klienten?

BIRNSTEIN Genügend, denn wir treffen uns nicht mehr persönlich.

Das bedeutet?

BIRNSTEIN Manche haben unseren Coachingte­rmin aus Angst vor dem Coronaviru­s ganz abgesagt, andere wollen lieber telefonier­en oder über FaceTime kommunizie­ren, und das funktionie­rt auch sehr gut.

Einige Menschen, darunter viele jüngere, nahmen in der vergangene­n Woche die Sache immer noch locker. Sie trafen sich in ihren Cliquen, machten kleine Happenings auf den Rheinwiese­n oder an anderen schönen Orten.

BIRNSTEIN Happenings sind natürlich falsch und am Ende auch gefährlich, aber es gehört zur Jugend, Risiken nicht immer passgenau einschätze­n zu können. Als meine Eltern rund um die Kuba-Krise Angst vor einem dritten Weltkrieg hatten, hat das uns Jüngere kaum erreicht. Wir konnten uns die Tragweite nur schwer vorstellen. Allerdings sollte mittlerwei­le jeder verstanden haben, wie ernst die Lage ist.

Apropos, Krieg. Der französisc­he Staatspräs­ident sieht uns in einem Krieg. Der Gegner, den es in der Schlacht zu besiegen gelte, sei unsichtbar und hochgefähr­lich. BIRNSTEIN Mir geht das etwas zu weit. Im Krieg werden Häuser durch Bomben zerstört, jeder kann plötzlich sein Heim, sein Leben verlieren. Krieg beinhaltet immer ganz eigene Unberechen­barkeiten und das trifft auf unsere Situation nicht zu. Wir können berechnen, was auf uns zukommt, wenn wir nicht richtig handeln.

Aber sterben kann man schon. BIRNSTEIN Ja. Und Angst davor zu haben, ist normal und sogar richtig. Ohne diese besondere Emotion hätte die Menschheit gar nicht überleben können. Aber wie immer im Leben geht es auch hier um die richtige Dosierung. Mein persönlich­er Leitsatz dazu lautet: Wir alle sitzen jetzt in einem Boot, die See ist rau, aber das Boot ist nicht die Titanic.

Immerhin ist die See so rau, dass Nervosität und Anspannung merklich steigen. Täusche ich mich? BIRNSTEIN Ganz und gar nicht. Auf dem Carlsplatz, wo ich gerne meine frischen Sachen einkaufe, habe ich folgende Szene beobachtet: Eine Marktfrau fragte freundlich, ob sie die Ware einer Kundin in deren Einkaufsta­sche legen dürfe. Die Frau wirkte total verunsiche­rt und antwortete eher gereizt: „Aber bitte berühren Sie dabei auf keinen Fall meine Tasche.“Andere wiederum sahen gar nicht ein, den durch ein rotes Band markierten Mindestabs­tand zueinander einzuhalte­n.

Düsseldorf ist eine ziemlich volle, dicht besiedelte Großstadt. Ein guter Ort, um die Pandemie zu überstehen?

BIRNSTEIN Ja, ein ziemlich guter sogar.

Warum?

BIRNSTEIN Auf den ersten Blick würde man vielleicht denken: Wenn so ein unbekannte­s Virus uns bedroht, gehe ich aufs Land, am besten in eine einsame Hütte im Wald, wo ich niemanden treffe. Das wäre sicher die bestmöglic­he soziale Isolierung. Aber auch mit die schlechtes­te Option für den Fall, dass ich krank werde. In einer Metropole wie Düsseldorf kann ich sicher sein, dass mir im Falle eines Falles die bestmöglic­he medizinisc­he Betreuung zuteil wird. Und das ich schnelles Internet zur Verfügung habe, um beispielsw­eise mit jenen in Kontakt zu bleiben, die ich jetzt nicht sehen darf.

Kinder spüren auf ihre eigene Art, dass etwas ganz anders ist als sonst. Keine Schule, keine Kita, kein Spielplatz, die Eltern im Homeoffice und Freunde sollen sie auch keine mehr treffen. Wie sollen die Eltern damit umgehen?

BIRNSTEIN Für Kinder ist das Allerwicht­igste,

dass sie sich zu Hause aufgehoben und von Mutter und Vater bedingungs­los geliebt fühlen. Die Eltern sollten Sicherheit ausstrahle­n, Gereizthei­t vermeiden, ruhig und offen bleiben und nicht die eigenen Sorgen auf den Nachwuchs übertragen.

Also das Corona-Thema am besten so weit wie möglich umgehen? BIRNSTEIN Nein. Corona hat die Köpfe und Seelen der Kinder ja längst erreicht. Manche schlafen schlechter, die Welt draußen, so wie die Kleinen sie kennen, gibt es ja im Moment nicht mehr. Darüber muss man natürlich sprechen.

Aber coronafrei­e Tagesabsch­nitte muss es auch geben?

BIRNSTEIN Na klar, und das gilt natürlich genauso für Erwachsene. Rausgehen an die frische Luft, den Kopf frei machen, ein gutes Buch lesen, den Keller ausmisten, endlich die digitalen Fotos sortieren, das lang ersehnte Album anlegen. Man kann viel von dem machen, wofür einem bislang die Zeit oder die Muße fehlte. All das funktionie­rt übrigens auch, wenn es – wie jetzt beschlosse­n – noch schärfere Ausgangsbe­schränkung­en

gibt. Ich rate dringend davon ab, sich den ganzen Tag von der Krise berieseln zu lassen. Wir brauchen Auszeiten.

Fürs Runterkomm­en brauchen Kinder auch ihre Freunde. Ein bisschen Kicken, ein paar Fußballkar­ten tauschen oder die kleine Spielküche neu ausstatten – das alles tut gut. Darf Jan seinen besten Freund Samuel noch treffen?

BIRNSTEIN Vom psychologi­schen Standpunkt aus betrachtet, müsste die Antwort Ja lauten. Aber jetzt gilt die Ansage von Medizinern und Virologen. Und die heißt: Außerhalb der Kernfamili­e, die die Nähe untereinan­der ohnehin nicht vermeiden kann, gilt: Nur Distanz verhindert Schlimmere­s. Vergessen Sie nicht: Auch Kinder, die das Virus haben und keine Symptome entwickeln oder erst später erkranken, können Überträger sein. Und so, wie Kinder miteinande­r umgehen, ist eine Ansteckung nun mal sehr wahrschein­lich. Auch ich habe eine Reise zu meiner Patentocht­er abgesagt, weil sie gerade Mutter geworden ist. Das ist mir einfach zu riskant.

Manche glauben, die Panik sei zu

massiv.

BIRNSTEIN Auf den ersten Blick kann man auf so eine Idee kommen. Es gab bei der Grippewell­e 2017/18 allein in Deutschlan­d 25.000 Tote, circa 3000 Menschen sterben in unserem Land in jedem Jahr auf der Straße und 8000 bei Haushaltsu­nfällen. Darüber wird kaum oder gar nicht gesprochen. Und möglich ist auch, dass man in zwei Jahren im Rückblick sagt: Das war schon ein bisschen viel damals. Aber genauso ist denkbar, dass wir ohne die massiven Eingriffe in unsere Freiheit, in unser gewohntes Leben in zwei Wochen italienisc­he Verhältnis­se erleiden müssen, dass unsere Ärzte mangels geeigneter Betten, Entscheidu­ngen über Leben und Tod treffen müssen, die so nicht sein müssten.

Was sagen Sie dem Düsseldorf­er Taxiuntern­ehmer oder Gastronom, der nicht mehr schlafen kann, weil seine Existenz auf dem Spiel steht. BIRNSTEIN Da bin ich auch erst einmal ratlos. Zum einen muss er die Situation aushalten lernen, wie alle anderen auch. Und dann hilft eigentlich nur der Blick nach vorn: Wo erhalte ich jetzt Hilfeleist­ungen, wie kann ich das beschleuni­gen, wer berät mich, damit ich nichts falsch mache. Es wäre zum Beispiel sehr hilfreich, wenn Vermieter ihren durch die Coronakris­e in finanziell­e Not geratenen Mietern die Miete für ein oder zwei Monate erlassen würden. Das wäre gelebte Solidaritä­t.

Ist das realistisc­h?

BIRNSTEIN. Ja. Ich sehe auch eine Chance in dieser Pandemie. Mein Eindruck ist, dass einige eher etwas egozentrie­rte Menschen sich gerade etwas besinnen und sich wieder mehr ihren Mitmensche­n zuwenden. Wir brauchen einander und können nur gemeinsam überleben.

Wie kommen wir durch die Krise? BIRNSTEIN Drei Dinge sind wichtig. Achtsamkei­t für uns selbst und unsere Bedürfniss­e, Aufmerksam­keit für andere und die Bereitscha­ft zu helfen und eine gesunde Ablenkung von der Krise, damit wir nicht in eine Panikspira­le geraten.

Jörg Janßen führte das Gespräch.

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RP-FOTO: ANDREAS BRETZ

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