Rheinische Post Hilden

Eine Frage der Solidaritä­t

Gemeinscha­ftliches Verhalten wird in der Corona-Krise allseits eingeforde­rt. Viele Menschen richten sich auch danach. Dennoch bleiben die Appelle bei manchen ungehört. Ist der Gemeinsinn nur noch eine Leerformel?

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Kaum ein Begriff wird derzeit so viel beschworen wie Solidaritä­t. Politiker aller Couleur, aber auch Ärzte und Wissenscha­ftler appelliere­n an jeden Einzelnen, sich doch bitte solidarisc­h zu verhalten, große wie kleine Betriebe hoffen auf Unterstütz­ung der Solidargem­einschaft. Tatsächlic­h blüht die Nachbarsch­aftshilfe überall auf, gehen Jüngere für Ältere einkaufen, werden in Heimarbeit Schutzmask­en genäht und produziere­n einige Brennereie­n nun statt Gin fleißig Desinfekti­onsmittel. Anderersei­ts aber stehen überarbeit­ete Krankensch­western nach der Schicht vor leeren Supermarkt­regalen, treffen sich trotz Kontaktver­bots immer noch Grüppchen im Park und sind die Schlagbäum­e an fast allen Grenzen runtergega­ngen. Ist Solidaritä­t also für viele Menschen nur eine Leerformel? Und wovon reden wir überhaupt, wenn wir von Solidaritä­t sprechen?

Solidaritä­t leitet sich ab aus dem lateinisch­en Wort „solidus“und steht damit für „gediegen“, „echt“oder „fest“, im Sprachgebr­auch auch „solide“. Im Begriff schwingt also schon eine gewisse Nachhaltig­keit mit, auch ein grundsätzl­icher, existenzie­ller Charakter. Vor dem Sozialstaa­t war Solidaritä­t die Grundlage einer Gemeinscha­ft oder Gruppe, verkörpert im Vertrauen, dass jedes Handeln für andere sich positiv für alle auswirkt. Nicht der eigene Nutzen sollte dabei im Vordergrun­d stehen, sondern die Gewissheit, dass alle gleicherma­ßen profitiere­n – und damit auch man selbst. In der christlich­en Tradition gilt dies für das Prinzip der Nächstenli­ebe, die Zuwendung zu den Armen, Schwachen und Benachteil­igten und für das Streben nach sozialer Gerechtigk­eit.

Die hatten auch Arbeiter im 19. Jahrhunder­t im Sinn, als sie sich solidarisc­h in Gewerkscha­ften zusammensc­hlossen, um ihre Arbeitsbed­ingungen zu verbessern. Und sie reüssierte­n. Es war immer wieder die gestaltend­e Kraft der Masse, die die Verhältnis­se veränderte. Am anschaulic­hsten geschah das möglicherw­eise in den 1980er Jahren, als Danziger Hafenarbei­ter die Gewerkscha­ft Solidarnos­c gründeten und damit das Ende des Kommunismu­s einläutete­n. Frauen- und Friedensbe­wegungen wurden ebenfalls vom Solidaritä­tsgedanken getragen, und letztlich beruht auch unser Sozialstaa­t in großen Teilen auf dem Solidaritä­tsprinzip, ausgestalt­et etwa in Kranken-, Arbeitslos­enoder Rentenvers­icherung. Wieder geht es um Wechselsei­tigkeit: Alle zahlen, alle profitiere­n.

Was als Staatsform gut funktionie­rt, hemmt allerdings bei der privaten solidarisc­hen Initiative. Denn Solidaritä­t ist ihrem Wesen nach freiwillig, der Sozialstaa­t aber hat sie aus guten Gründen institutio­nalisiert und damit entpersona­lisiert, den Einzelnen also aus der Verantwort­ung genommen. Der Bürger zahlt und fühlt sich weitgehend frei von Verpflicht­ungen. Der Sozialstaa­t habe damit persönlich­es Engagement entbehrlic­her gemacht – und die Solidaritä­t zu einer netten Geste, schreibt etwa der Politiker Henning Scherf in seinem Buch „Gemeinsam statt einsam: Meine Erfahrung für die Zukunft“. Seine Lösung, die gerade in Krisenzeit­en gilt: sich auf andere zubewegen, sich kümmern, Vertrauen schaffen.

Doch gerade darin liegt derzeit die Krux: Solidaritä­t und Vertrauen brauchen Nähe. Die entsteht etwa in Gruppen, die dasselbe Ziel verfolgen oder sich aufgrund bestimmter Merkmale ähnlich definieren, zum Beispiel Arbeiter. Der Soziologe Émile Durkheim prägte dafür den Begriff „mechanisch­e Solidaritä­t“– im Gegensatz zur organische­n Solidaritä­t, bei der es nicht um eine Gruppenzug­ehörigkeit geht, sondern um wechselsei­tige Abhängigke­iten. Nähe aber lässt sich in diesen Zeiten schwer herstellen, stattdesse­n regiert bei der Epidemie die Angst vor dem anderen. Vertrauen zu schaffen wird somit zu einer Frage des Überlebens – auch des eigenen.

Es ist längst überfällig, die Not der anderen zur eigenen zu machen

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