Eine Frage der Solidarität
Gemeinschaftliches Verhalten wird in der Corona-Krise allseits eingefordert. Viele Menschen richten sich auch danach. Dennoch bleiben die Appelle bei manchen ungehört. Ist der Gemeinsinn nur noch eine Leerformel?
Kaum ein Begriff wird derzeit so viel beschworen wie Solidarität. Politiker aller Couleur, aber auch Ärzte und Wissenschaftler appellieren an jeden Einzelnen, sich doch bitte solidarisch zu verhalten, große wie kleine Betriebe hoffen auf Unterstützung der Solidargemeinschaft. Tatsächlich blüht die Nachbarschaftshilfe überall auf, gehen Jüngere für Ältere einkaufen, werden in Heimarbeit Schutzmasken genäht und produzieren einige Brennereien nun statt Gin fleißig Desinfektionsmittel. Andererseits aber stehen überarbeitete Krankenschwestern nach der Schicht vor leeren Supermarktregalen, treffen sich trotz Kontaktverbots immer noch Grüppchen im Park und sind die Schlagbäume an fast allen Grenzen runtergegangen. Ist Solidarität also für viele Menschen nur eine Leerformel? Und wovon reden wir überhaupt, wenn wir von Solidarität sprechen?
Solidarität leitet sich ab aus dem lateinischen Wort „solidus“und steht damit für „gediegen“, „echt“oder „fest“, im Sprachgebrauch auch „solide“. Im Begriff schwingt also schon eine gewisse Nachhaltigkeit mit, auch ein grundsätzlicher, existenzieller Charakter. Vor dem Sozialstaat war Solidarität die Grundlage einer Gemeinschaft oder Gruppe, verkörpert im Vertrauen, dass jedes Handeln für andere sich positiv für alle auswirkt. Nicht der eigene Nutzen sollte dabei im Vordergrund stehen, sondern die Gewissheit, dass alle gleichermaßen profitieren – und damit auch man selbst. In der christlichen Tradition gilt dies für das Prinzip der Nächstenliebe, die Zuwendung zu den Armen, Schwachen und Benachteiligten und für das Streben nach sozialer Gerechtigkeit.
Die hatten auch Arbeiter im 19. Jahrhundert im Sinn, als sie sich solidarisch in Gewerkschaften zusammenschlossen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Und sie reüssierten. Es war immer wieder die gestaltende Kraft der Masse, die die Verhältnisse veränderte. Am anschaulichsten geschah das möglicherweise in den 1980er Jahren, als Danziger Hafenarbeiter die Gewerkschaft Solidarnosc gründeten und damit das Ende des Kommunismus einläuteten. Frauen- und Friedensbewegungen wurden ebenfalls vom Solidaritätsgedanken getragen, und letztlich beruht auch unser Sozialstaat in großen Teilen auf dem Solidaritätsprinzip, ausgestaltet etwa in Kranken-, Arbeitslosenoder Rentenversicherung. Wieder geht es um Wechselseitigkeit: Alle zahlen, alle profitieren.
Was als Staatsform gut funktioniert, hemmt allerdings bei der privaten solidarischen Initiative. Denn Solidarität ist ihrem Wesen nach freiwillig, der Sozialstaat aber hat sie aus guten Gründen institutionalisiert und damit entpersonalisiert, den Einzelnen also aus der Verantwortung genommen. Der Bürger zahlt und fühlt sich weitgehend frei von Verpflichtungen. Der Sozialstaat habe damit persönliches Engagement entbehrlicher gemacht – und die Solidarität zu einer netten Geste, schreibt etwa der Politiker Henning Scherf in seinem Buch „Gemeinsam statt einsam: Meine Erfahrung für die Zukunft“. Seine Lösung, die gerade in Krisenzeiten gilt: sich auf andere zubewegen, sich kümmern, Vertrauen schaffen.
Doch gerade darin liegt derzeit die Krux: Solidarität und Vertrauen brauchen Nähe. Die entsteht etwa in Gruppen, die dasselbe Ziel verfolgen oder sich aufgrund bestimmter Merkmale ähnlich definieren, zum Beispiel Arbeiter. Der Soziologe Émile Durkheim prägte dafür den Begriff „mechanische Solidarität“– im Gegensatz zur organischen Solidarität, bei der es nicht um eine Gruppenzugehörigkeit geht, sondern um wechselseitige Abhängigkeiten. Nähe aber lässt sich in diesen Zeiten schwer herstellen, stattdessen regiert bei der Epidemie die Angst vor dem anderen. Vertrauen zu schaffen wird somit zu einer Frage des Überlebens – auch des eigenen.
Es ist längst überfällig, die Not der anderen zur eigenen zu machen