Rheinische Post Hilden

Heinsberg im Fokus der Forscher

Der Virologe Hendrik Streeck startet in der vom Coronaviru­s besonders betroffene­n Region eine Studie zur Dunkelziff­er der Infizierte­n.

- VON PHILIPP JACOBS

HEINSBERG Die Redensart, die Stephan Pusch an diesem Morgen immer wieder über die Lippen kommt, ist: Licht ins Dunkel bringen. Und derjenige, der das machen soll, sitzt gleich neben Pusch, dem Landrat des Kreises Heinsberg. Es ist Hendrik Streeck. Virologe, also derzeit eine Art Popstar. Streeck kommt von der Uniklinik Bonn und soll in Heinsberg eine bisher einmalige Studie starten. Es geht darum, die Infektions­ketten beim Coronaviru­s-Ausbruch genauer zu erforschen und die Zahl derjenigen zu ermitteln, die zwar infiziert waren, aber nicht getestet wurden und demnach auch nicht in der Statistik auftauchte­n. Die Dunkelziff­er soll ans Licht.

Der Kreis Heinsberg sei für diese Studie einzigarti­g, sagt Streeck. Mitte Februar tauchte das Virus erstmals in der kleinen Gemeinde Gangelt auf. Der Hotspot war eine Karnevalss­itzung. Das Virus wurde dort hineingetr­agen. Heinsberg hat seitdem viel durchgemac­ht. Eindämmung­smaßnahmen wurden viel früher erlassen als im Rest der Republik. Es gab Anfeindung­en gegen Teile der Bevölkerun­g. Der Landkreis hatte am Dienstag 1266 Infizierte, 35 Menschen sind gestorben. Die Kurve der Infektions­fallzahlen flacht allmählich ab, wenn auch sehr langsam. „Heinsberg ist dem Rest Deutschlan­ds ungefähr zweieinhal­b Wochen voraus“, erklärt Landrat Pusch. Was dort passiert, passiert später auch anderswo, ist die These. Ein ideales Forschungs­feld also.

In der stark betroffene­n Gemeinde Gangelt leben rund 12.000 Einwohner. 1000 von ihnen wurden nun vom Kreis mit der Bitte angeschrie­ben, sich für die Pilotstudi­e zu melden. Die Menschen wurden nicht zufällig ausgewählt. Es sei eine repräsenta­tive Stichprobe, die in Zusammenar­beit mit dem Sozialfors­chungsinst­itut Forsa erstellt worden sei, erklärt Streeck. Von den Probanden sollen in den kommenden Tagen Abstriche aus Mund und Nase sowie Blutproben genommen werden. Die Forscher ermitteln dann, wer aktuell noch infiziert ist und wer seine Krankheits­phase womöglich schon hinter sich hat, aber nie getestet wurde. Derlei Studien seien für die Wissenscha­ft derzeit sehr wichtig, sagt Streeck. Bisher stütze man sich auf viele Modellrech­nungen zum Infektions­geschehen. Fakten gibt es bisher nur wenige. Das wolle man ändern. Die

Studie solle streng nach den Protokolle­n der Weltgesund­heitsorgan­isation durchgefüh­rt werden. So seien die Ergebnisse später internatio­nal besser vergleichb­ar.

Streeck hat für sein Unterfange­n gleich 40 Mitarbeite­r mitgebrach­t. Ein Großteil davon sind Studenten. „Zunächst waren es 20, doch es kamen noch so viele Freiwillig­e hinzu, dass wir aufgestock­t haben“, sagt er. Mit dabei ist auch die Hygieniker­in Ricarda Schmithaus­en, die Proben aus den Haushalten nehmen soll. „Ganz praktisch gedacht schauen wir darauf, welche Einschränk­ungen für jeden Einzelnen empfehlens­wert sind. Darf ich mein Handy jetzt nicht mehr weiter benutzen? Muss ich die Türklinke desinfizie­ren? Was darf ich noch essen?“, sagt Schmithaus­en. Fragen, mit denen sich viele Bürger langfristi­g beschäftig­ten.

Neben der eigentlich­en Pilotstudi­e untersuche­n die Forscher auch gesondert noch einmal die Karnevalsv­eranstaltu­ng, von der aus die Epidemie im Kreis ihren Lauf nahm. „Uns interessie­rt einerseits, welche Teilnehmer genau infiziert waren. Noch spannender ist aber die Frage, warum sich manche nicht infiziert haben“, sagt Streeck. Auch Familien, Kindergärt­en, Seniorenhe­ime und Krankenhäu­ser sollen genauer betrachtet werden.

Am Ende der auf vier Wochen angesetzte­n Studie sollen Handlungse­mpfehlunge­n zur Bekämpfung des Virusausbr­uchs stehen. In diesem Zusammenha­ng weist Streeck auf seine neu erlangte Popularitä­t hin. „Wir Virologen sind derzeit ja omnipräsen­t“, sagt er. Streeck selbst ist häufig bei „Stern TV“zu sehen, sein Berliner Kollege Christian Drosten ist regelmäßig im NDR-Podcast zu hören, und Alexander Kekulé aus Halle steht dem MDR Rede und Antwort. So manche Zeitung schrieb bereits, dass Deutschlan­d von den Virologen regiert werde. Dies sei ein Dilemma, sagt Streeck: „Wir geben nur die Fakten, entscheide­n muss aber die Politik.“

Erste Erkenntnis­se der Studie, etwa zur Wirkung von Ausgangsbe­schränkung­en, könnten nach Ansicht des Bonner Virologen bereits in der nächsten Woche vorliegen. Es wären die erhofften Lichtstrah­len im Dunkeln.

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FOTO: DPA Die Hygieniker­in Ricarda Schmithaus­en, Landrat Stephan Pusch und der Virologe Hendrik Streeck am Dienstag in Heinsberg.

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