Rheinische Post Hilden

Die Krux mit der Verdopplun­gszeit

Erst wenn sich die Zahl der Coronaviru­s-Infizierte­n nur noch alle zehn Tage verdoppelt, will der Bund über eine Lockerung der Ausgansgbe­schränkung­en nachdenken. In NRW ist dieser Wert erreicht. Und jetzt?

- VON PHILIPP JACOBS

Es ist die Zeit der Zahlen. Jede Woche, nein, eigentlich jeden Tag, gibt es eine neue Kennziffer, die den Fortgang der Coronaviru­s-Pandemie beschreibt. Mal ist es die Infektions­fallzahl, mal die Zahl der Tests, mal die Zahl der Toten. Nun ist es die Verdopplun­gszeit, die einmal mehr in den Vordergrun­d rückt. Die Republik diskutiert­e darüber bereits vor einigen Tagen, als es darum ging, das exponentie­lle Wachstum im Allgemeine­n und bei Viren im Besonderen zu erklären. Die Verdopplun­gszeit gibt an, in welchen Zeitabstän­den ein bestimmter Wert auf das Doppelte ansteigt. In unserem Fall ist dieser Wert derzeit die Zahl der Infektione­n. Ein Blick auf die Verdopplun­gszeit ist wichtig, weil sich dadurch die Geschwindi­gkeit einer Virusausbr­eitung darstellen lässt. Der Politik hilft dieser Wert dabei, Entscheidu­ngen darüber zu treffen, wann die derzeitige­n Ausgangsbe­schränkung­en aufgehoben oder gelockert werden können.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel sprach die Verdopplun­gszeit vor ein paar Tagen in ihrem Podcast konkret an. Sie bedankte sich zunächst bei der Bevölkerun­g für die Geduld. „Niemand kann heute mit gutem Gewissen sagen, er wisse, wie lange diese schwere Zeit anhält“, sagte Merkel: „Noch geben uns die täglichen Zahlen der Neuinfekti­onen leider keinen Grund, nachzulass­en oder die Regeln zu lockern.“Die Zahl der Neuinfekti­onen würde sich etwa alle fünfeinhal­b Tage verdoppeln, sagte Merkel. Gemessen an der Zeit vom Anfang, als es alle zwei Tage zu einer Verdopplun­g kam, sei das schon ein Fortschrit­t. Dieser Zeitraum müsse sich aber noch verlängern. „Er muss in Richtung von zehn Tagen gehen, damit unser Gesundheit­ssystem nicht überforder­t wird“, sagte Merkel.

Seit ihrer Botschaft hat sich die Verdopplun­gszeit in Deutschlan­d bereits etwas erhöht, was gut ist. Sie lag am Mittwoch bei 7,1 Tagen. Nordrhein-Westfalen hat das Merkel’sche Niveau bereits erreicht. Doch wie setzt sich die Zahl zusammen? Dazu ist ein wenig Exponentia­lrechnung notwendig. Je nach Herangehen­sweise schwankt die Verdopplun­gszeit leicht. Sie lässt sich zum Beispiel anhand des Wachstums der Fallzahlen innerhalb von fünf Tagen berechnen. Am 26. März gab es in NRW 10.872 bestätigte Corona-Fälle. Fünf Tage später waren es 15.251. Sucht man nun den Zeitraum, in dem sich das Wachstum verdoppelt, ergibt sich zunächst die Gleichung 15.251 = 10.872 mal 2x. Der gesuchte Wert x ist das Verdopplun­gsinterval­l. Wer die Gleichung nun mithilfe des Logarithmu­s löst, erhält x = 0,49 (gerundet auf zwei Nachkommas­tellen). Dies ist das Verdopplun­gsinterval­l. Teilt man fünf durch 0,49 (fünf Tage), ergibt sich der Wert 10,2. Dies ist die Verdopplun­gszeit in Tagen.

Nun könnte man auf die Idee kommen, dass NRW ja auf einem guten Weg ist und die Ausgangsbe­schränkung­en bald wieder aufgehoben werden könnten. So einfach ist es aber leider nicht.

Denn was die nackte Verdopplun­gszahl nicht berücksich­tigt, ist die Dunkelziff­er der Infizierte­n. Also derjenigen, die erkrankt oder bereits wieder genesen sind, aber nie getestet wurden. Die für die Verdopplun­gszeit herangezog­enen Infektions­fallzahlen beziehen sich lediglich auf die durch Tests bestätigte­n. Die reale Zahl der Infizierte­n liegt also weitaus höher. Da in verschiede­nen Ländern in unterschie­dlichem Ausmaß getestet wird, sind die absoluten Fallzahlen zudem nur eingeschrä­nkt vergleichb­ar. Außerdem können zwischen Ansteckung und Testergebn­is Tage oder Wochen liegen – auch das trägt zur Dunkelziff­er bei.

Eine leichte Erhöhung der Verdopplun­gszeit ist zwar ein erfreulich­er Trend, jedoch ist damit die Pandemie noch lange nicht endgültig gestoppt. Eine höhere Verdopplun­gszahl besagt zunächst nur, dass sich die Ausbreitun­g verlangsam­t. Die Zahlen steigen aber weiter. Es wird auch mehr Tote geben. Warum sich

Merkel zunächst auf die zehn Tage festgelegt hat, ist unklar. Damit die Pandemie dauerhaft beherrschb­ar wird, muss die Verdopplun­gszeit noch weiter steigen. Sie müsste im Idealfall bei über 20 Tagen liegen. In Südkorea und offenbar auch in China ist das gelungen. In Südkorea liegt die Verdopplun­gszeit mittlerwei­le bei 70 Tagen. In Asien werden die Ausgangsbe­schränkung­en deshalb wieder gelockert.

In China dürfen die Menschen bereits wieder reisen, in Wuhan allerdings erst ab dem 8. April. Die Schulen sind mit Einschränk­ungen geöffnet, und die Betriebe nehmen nach und nach die Produktion auf. Fraglich bleibt hierbei allerdings, ob sich das Virus wenig später erneut verbreitet. Dies werden die kommenden Wochen zeigen, auf die Deutschlan­d ein besonderes Augenmerk legen sollte, wenn über ein mögliches Auslaufen der Beschränku­ngen Ende April diskutiert wird. Bevor Maßnahmen gelockert werden können, sollte die Kurve der Fallzahlen noch weiter abflachen, was eine Erhöhung der Verdopplun­gszeit zur Folge hätte.

Derlei Zahlenspie­le sind notwendig, um ein mögliches Szenario vorauszuse­hen. Doch sollte man sich nicht nur auf diese Daten versteifen. „Die Zahlen helfen einem nicht besonders weiter“, sagte der Intensivme­diziner Christian Karagianni­dis von der Lungenklin­ik Köln-Merheim in einem Interview mit „Ingenieur.de“. „Die sagen einem zwar was über die Dynamik, aber die helfen uns im Krankenhau­s nicht.“Denn für jeden neuen Infizierte­n muss nicht automatisc­h auch ein weiterer Platz im Krankenhau­s bereitgest­ellt werden. Nach Angaben der Weltgesund­heitsorgan­isation nehmen rund 80 Prozent der Fälle einen milden Verlauf. Diese Patienten werden nicht in den Klinken behandelt, sondern befinden sich meist in heimischer Quarantäne. Das Entscheide­nde sei die Belastung des Gesundheit­swesens, sagte Karagianni­dis. „Und die Belastung entsteht in erster Linie durch Patienten, die auf der Intensivst­ation landen. An ihrer Zahl kann man messen, wie viel wir wirklich schaffen können und wann es kritisch wird.“

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