Die Krux mit der Verdopplungszeit
Erst wenn sich die Zahl der Coronavirus-Infizierten nur noch alle zehn Tage verdoppelt, will der Bund über eine Lockerung der Ausgansgbeschränkungen nachdenken. In NRW ist dieser Wert erreicht. Und jetzt?
Es ist die Zeit der Zahlen. Jede Woche, nein, eigentlich jeden Tag, gibt es eine neue Kennziffer, die den Fortgang der Coronavirus-Pandemie beschreibt. Mal ist es die Infektionsfallzahl, mal die Zahl der Tests, mal die Zahl der Toten. Nun ist es die Verdopplungszeit, die einmal mehr in den Vordergrund rückt. Die Republik diskutierte darüber bereits vor einigen Tagen, als es darum ging, das exponentielle Wachstum im Allgemeinen und bei Viren im Besonderen zu erklären. Die Verdopplungszeit gibt an, in welchen Zeitabständen ein bestimmter Wert auf das Doppelte ansteigt. In unserem Fall ist dieser Wert derzeit die Zahl der Infektionen. Ein Blick auf die Verdopplungszeit ist wichtig, weil sich dadurch die Geschwindigkeit einer Virusausbreitung darstellen lässt. Der Politik hilft dieser Wert dabei, Entscheidungen darüber zu treffen, wann die derzeitigen Ausgangsbeschränkungen aufgehoben oder gelockert werden können.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach die Verdopplungszeit vor ein paar Tagen in ihrem Podcast konkret an. Sie bedankte sich zunächst bei der Bevölkerung für die Geduld. „Niemand kann heute mit gutem Gewissen sagen, er wisse, wie lange diese schwere Zeit anhält“, sagte Merkel: „Noch geben uns die täglichen Zahlen der Neuinfektionen leider keinen Grund, nachzulassen oder die Regeln zu lockern.“Die Zahl der Neuinfektionen würde sich etwa alle fünfeinhalb Tage verdoppeln, sagte Merkel. Gemessen an der Zeit vom Anfang, als es alle zwei Tage zu einer Verdopplung kam, sei das schon ein Fortschritt. Dieser Zeitraum müsse sich aber noch verlängern. „Er muss in Richtung von zehn Tagen gehen, damit unser Gesundheitssystem nicht überfordert wird“, sagte Merkel.
Seit ihrer Botschaft hat sich die Verdopplungszeit in Deutschland bereits etwas erhöht, was gut ist. Sie lag am Mittwoch bei 7,1 Tagen. Nordrhein-Westfalen hat das Merkel’sche Niveau bereits erreicht. Doch wie setzt sich die Zahl zusammen? Dazu ist ein wenig Exponentialrechnung notwendig. Je nach Herangehensweise schwankt die Verdopplungszeit leicht. Sie lässt sich zum Beispiel anhand des Wachstums der Fallzahlen innerhalb von fünf Tagen berechnen. Am 26. März gab es in NRW 10.872 bestätigte Corona-Fälle. Fünf Tage später waren es 15.251. Sucht man nun den Zeitraum, in dem sich das Wachstum verdoppelt, ergibt sich zunächst die Gleichung 15.251 = 10.872 mal 2x. Der gesuchte Wert x ist das Verdopplungsintervall. Wer die Gleichung nun mithilfe des Logarithmus löst, erhält x = 0,49 (gerundet auf zwei Nachkommastellen). Dies ist das Verdopplungsintervall. Teilt man fünf durch 0,49 (fünf Tage), ergibt sich der Wert 10,2. Dies ist die Verdopplungszeit in Tagen.
Nun könnte man auf die Idee kommen, dass NRW ja auf einem guten Weg ist und die Ausgangsbeschränkungen bald wieder aufgehoben werden könnten. So einfach ist es aber leider nicht.
Denn was die nackte Verdopplungszahl nicht berücksichtigt, ist die Dunkelziffer der Infizierten. Also derjenigen, die erkrankt oder bereits wieder genesen sind, aber nie getestet wurden. Die für die Verdopplungszeit herangezogenen Infektionsfallzahlen beziehen sich lediglich auf die durch Tests bestätigten. Die reale Zahl der Infizierten liegt also weitaus höher. Da in verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß getestet wird, sind die absoluten Fallzahlen zudem nur eingeschränkt vergleichbar. Außerdem können zwischen Ansteckung und Testergebnis Tage oder Wochen liegen – auch das trägt zur Dunkelziffer bei.
Eine leichte Erhöhung der Verdopplungszeit ist zwar ein erfreulicher Trend, jedoch ist damit die Pandemie noch lange nicht endgültig gestoppt. Eine höhere Verdopplungszahl besagt zunächst nur, dass sich die Ausbreitung verlangsamt. Die Zahlen steigen aber weiter. Es wird auch mehr Tote geben. Warum sich
Merkel zunächst auf die zehn Tage festgelegt hat, ist unklar. Damit die Pandemie dauerhaft beherrschbar wird, muss die Verdopplungszeit noch weiter steigen. Sie müsste im Idealfall bei über 20 Tagen liegen. In Südkorea und offenbar auch in China ist das gelungen. In Südkorea liegt die Verdopplungszeit mittlerweile bei 70 Tagen. In Asien werden die Ausgangsbeschränkungen deshalb wieder gelockert.
In China dürfen die Menschen bereits wieder reisen, in Wuhan allerdings erst ab dem 8. April. Die Schulen sind mit Einschränkungen geöffnet, und die Betriebe nehmen nach und nach die Produktion auf. Fraglich bleibt hierbei allerdings, ob sich das Virus wenig später erneut verbreitet. Dies werden die kommenden Wochen zeigen, auf die Deutschland ein besonderes Augenmerk legen sollte, wenn über ein mögliches Auslaufen der Beschränkungen Ende April diskutiert wird. Bevor Maßnahmen gelockert werden können, sollte die Kurve der Fallzahlen noch weiter abflachen, was eine Erhöhung der Verdopplungszeit zur Folge hätte.
Derlei Zahlenspiele sind notwendig, um ein mögliches Szenario vorauszusehen. Doch sollte man sich nicht nur auf diese Daten versteifen. „Die Zahlen helfen einem nicht besonders weiter“, sagte der Intensivmediziner Christian Karagiannidis von der Lungenklinik Köln-Merheim in einem Interview mit „Ingenieur.de“. „Die sagen einem zwar was über die Dynamik, aber die helfen uns im Krankenhaus nicht.“Denn für jeden neuen Infizierten muss nicht automatisch auch ein weiterer Platz im Krankenhaus bereitgestellt werden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation nehmen rund 80 Prozent der Fälle einen milden Verlauf. Diese Patienten werden nicht in den Klinken behandelt, sondern befinden sich meist in heimischer Quarantäne. Das Entscheidende sei die Belastung des Gesundheitswesens, sagte Karagiannidis. „Und die Belastung entsteht in erster Linie durch Patienten, die auf der Intensivstation landen. An ihrer Zahl kann man messen, wie viel wir wirklich schaffen können und wann es kritisch wird.“