Rheinische Post Hilden

Schatztruh­e der Filmgeschi­chte

Netflix nimmt die Produktion­en des legendären japanische­n Animations­studios Ghibli ins Programm. Sie sind ein Ereignis.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Der Streaming-Dienst Netflix gilt geradezu als Sinnbild für ein rasant expandiere­ndes Medienunte­rnehmen, das seit seinem Einstieg ins Video-on-Demand-Geschäft im Jahre 2007 heute weltweit 167 Millionen zahlende Abonnenten in seiner Kundenkart­ei verwaltet. Der Schwerpunk­t liegt dabei zunehmend auf exklusiven Eigenprodu­ktionen im Serienform­at, die mit großem PR-Aufwand zu popkulture­llen Großereign­issen gehypt werden. Aber nun versucht das Unternehme­n im kalifornis­chen Los Gatos mit einem ungewöhnli­chen Deal auch seiner Aufgabe als Schatztruh­e der Filmgeschi­chte gerecht zu werden.

„Chihiros Reise ins Zauberland“wurde 2003 mit dem Oscar ausgezeich­net

Mit 21 Titeln hat Netflix fast den kompletten Katalog des legendären japanische­n Animations­studios Ghibli in sein Programm aufgenomme­n. Darunter sind auch alle neun Langfilme des Anime-Meisters Hayao Miyazaki, der in seinem Heimatland wie ein König verehrt wird, aber auch in Hollywood höchste Anerkennun­g genießt. „Immer wenn wir nicht weiter wissen, schaue ich mir ein paar Szenen aus einem Miyazaki-Film an“, sagte John Lasseter, der kreative Leiter der Pixar- und Disney Animation-Studios, für den die Werke des japanische­n Kollegen ein steter Quell der Inspiratio­n sind. Anders als bei Pixar werden die Filme in den Ghibli-Studios noch von Hand gezeichnet und koloriert.

Diese geradezu haptische handwerkli­che Qualität, die geschmackv­olle Farbenprac­ht und der überborden­de visuelle Detailreic­htum sind das ästhetisch­e Markenzeic­hen von Miyazakis-Filmen. Auch Erwachsene werden hier schnell wieder zum staunenden Kind. Sein „Chihiros Reise ins Zauberland“, der 2002 mit dem Goldenen Bären und kurz darauf mit dem Oscar ausgezeich­net wurde, räumte mit dem Vorurteil auf, dass Zeichentri­ckfilme nur minderjähr­ige Zuschauer verzaubern können. Ein zehnjährig­es Mädchen verläuft sich hier in einem stillgeleg­ten Vergnügung­spark,

wo pittoreske Geisterwes­en ihren Wellnessur­laub verbringen und Chihiro unter der Knute einer Hexe schuften muss, um ihre Eltern zu befreien.

Die Heldinnen – und es sind meistens Mädchen – in Miyazakis Filmen haben es selten leicht, aber sie bewähren sich stets mit ihren ureigenen Kräften und freundscha­ftlicher Hilfe. So auch in Miyazakis erstem Langfilm „Das Schloss im Himmel“aus dem Jahre 1986. Buchstäbli­ch vom Himmel fällt die junge Sheeta direkt in die Arme des Bergarbeit­erjungen Pazu. Sie trägt einen magischen Stein um den Hals, hinter dem illustre Luftpirate­n und Regierungs­beamte her sind. Miyazaki hat die Handlung in der Zeit der industriel­len Revolution angesiedel­t. Die Häuser der Bergarbeit­er kleben an den Felswänden riesiger Schluchten. Die Stollensys­teme unter Tage werden zur mystischen Erlebniswe­lt.

Miyazakis Werke zeichnen sich auf visueller Ebene genauso wie bei der Charakteri­sierung der Figuren durch eine hohe Komplexitä­t aus. Die Protagonis­tinnen durchleben auf ihren abenteuerl­ichen Reisen ein weites Spektrum von Emotionen: Angst, Courage, Trauer, Freude, Trost, Geborgenhe­it, Übermut, Nachdenkli­chkeit. Miyazaki gelingt es, seinen Figuren die widerstreb­enden Gefühle eines Kindes ins Gesicht zu zeichnen. Aber auch ein Bösewicht ist in diesen Filmen selten nur Schurke, sondern ein ambivalent­es und veränderba­res Wesen.

Die klare Trennung zwischen Gut und Böse, die gerade in Animations­filmen weit verbreitet ist, findet hier nicht statt. Vielmehr wird die Verwandlun­g immer wieder zur treibenden Kraft, mit der ein böser Geist zum bemitleide­nswerten Wesen mutiert oder die unzuverläs­sigen Eltern in grunzende Schweine. Es gibt wohl kaum einen anderen

Animations­künstler, der sich so nah an die wankenden Gefühlswel­ten eines Kindes heran gearbeitet hat. In „Mein Nachbar Torino“(1988) erschließt sich ein vierjährig­es Mädchen mit ungestümen Entdeckerw­illen seine Umgebung. Herrlich wie hier die emotionale Sprunghaft­igkeit eines Kleinkinde­s in Mimik und Bewegung umgesetzt wird. In „Kikis kleiner Lieferserv­ice“(1989) wagt eine junge Hexe die ersten Schritte in die Selbststän­digkeit. Der Film darf auch als feministis­che Hommage an weibliche Tatkraft verstanden werden.

Prägend sind in Miyazakis Filmen auch immer wieder die Themen Krieg und Naturzerst­örung. In seinem letzten Werk „Wie der Wind sich hebt“(2013) erzählt Miyazaki von dem bekannten Ingenieur Jiro Horikoshi (1903–1982), der schon als Kind davon träumt, Flugzeuge zu bauen und mit wissenscha­ftlicher Begeisteru­ng das Zusammensp­iel von Technik und Natur erforscht. Sein Traum vom Fliegen wird jedoch mit dem militärisc­hen Einsatz seiner Erfindunge­n im Zweiten Weltkrieg zunehmend pervertier­t.

Die Technik der absoluten Bewegungsf­reiheit wird zum Instrument der Zerstörung. „Wie der Wind sich hebt“erscheint nun auf Netflix, womit 21 Filme der Ghibli-Studios verfügbar sind. Dieser wertvolle filmhistor­ische Content darf durchaus auch als cineastisc­he Gegenoffen­sive zum machtvolle­n Auftritt von „Disney+“gesehen werden, der zum Start am 23. März Zeichentri­ck-Klassiker des Konzerns online gestellt hat. Es bleibt zu hoffen, dass sich Netflix auch weiterhin in diesem Segment profiliert.

Denn die Geschichte des Kinos birgt noch viele Schätze, die in den Kellern der Lizenzinha­ber lagern und darauf warten einem breiten Publikum zugänglich gemacht zu werden.

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FOTO: DPA Szene aus dem Studio-Ghibli-Klassiker „Chihiros Reise ins Zauberland“.

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