„Ein Jahr Besuchsverbot für Heime ist untragbar“
Der NRW-Gesundheitsminister will mithilfe von Wissenschaftlern Wege finden, um Senioren vor der Vereinsamung zu bewahren.
DÜSSELDORF Kurz bevor er in die Staatskanzlei muss, um das Kabinett über die Corona-Lage zu informieren, empfängt Karl-Josef Laumann (CDU) in seinem Ministerium zum Interview – in einem Besprechungsraum, mit dem vom Robert-Koch-Institut empfohlenen Abstand.
Werden die Strukturen, die Sie jetzt aufbauen, die Krise überdauern? LAUMANN Wir sind ja lange für unsere ausgeprägten Krankenhausstrukturen in Deutschland und insbesondere in NRW kritisiert worden. Jetzt machen sie sich bezahlt. Aber natürlich müssen wir zur Steigerung der Behandlungsqualität und in Zeiten knapper Ressourcen nach der Pandemie weiter zentralisieren und Kliniken mit Behandlungsschwerpunkten schaffen. Aber eine Krisenerkenntnis gibt es: In der Fläche werden wir weiter sehr starke Intensivstationen vorhalten müssen. Daran darf nicht gespart werden.
Wie viele Beatmungsplätze gibt es? LAUMANN In den Kliniken haben wir fast 4800 Beatmungsplätze. Zudem lassen wir gerade prüfen, wie viele Narkosegeräte sich schnell in Beatmungsgeräte umfunktionieren lassen.
Die dann aber im Betrieb fehlen. LAUMANN Wir haben doch schon heute schätzungsweise 30 bis 40 Prozent Leerstand in den Krankenhäusern, weil alle derzeit nicht notwendigen Operationen verschoben wurden. Diese Geräte stehen also zur Verfügung und sollten jetzt für die Vorbereitung des Ernstfalls identifiziert werden.
Wie lange müssen die Patienten in NRW im Schnitt beatmet werden? LAUMANN Das ist individuell sehr unterschiedlich. Die Ärzte sagen mir aber: in der Regel 14 bis 21 Tage.
Es gibt schon Rufe, man müsse Risikogruppen separieren und für die übrige Bevölkerung das Leben wieder langsam hochfahren. Sinnvoll? LAUMANN Die Pflegeheime sind ganz klar unsere Sorgenkinder. Wir müssen dort unter allen Umständen eine Ausbreitung verhindern – mit sehr weitreichenden Besuchsverboten und seit Neuestem auch mit weitreichenden Testungen von Bewohnern und Beschäftigten. Wir sehen aber leider auch, dass es selbst in exzellent geführten Häusern zu einer Ausbreitung kommen kann. Ungeachtet dessen können wir als Gesellschaft aber nicht einfach die Freiheitsrechte der älteren Generation über einen längeren Zeitraum aushebeln. Sie können es den 170.000 Menschen in unseren Pflegeheimen nicht zumuten, dass für sie über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg ein Besuchsverbot gilt, dass sie weder Ehepartner, Kinder noch Enkel sehen können.
Was ist die Alternative?
LAUMANN Ich habe ganz aktuell bei mehreren Wissenschaftlern Praxisvorschläge in Auftrag gegeben, wie wir das Leben in den Heimen trotz des Virus weiter aufrechterhalten können. Die Vorschläge werden schon in Kürze vorliegen und dann auch schnell umgesetzt. Wie auch immer geartete Besuche müssen wieder möglich sein. Andersherum müssen wir uns alle auch darüber im Klaren sein: Wir können es uns nicht leisten, die Wirtschaft dauerhaft auszubremsen. Jeder Rentner muss beispielsweise auch im Blick halten, dass genug Menschen arbeiten müssen, um die Rentenbeiträge zu bezahlen. Sonst haben wir hier bald ganz andere Diskussionen. Auch die enormen Ausgaben der Krankenkassen müssen gedeckt werden. Aber am Ende darf es keine Debatte sein: Mensch versus Profit.
Wie hoch ist die Zahl infizierter Ärzte und Pfleger in NRW? LAUMANNMedizinisches Personal hat ein doppelt so hohes Risiko, sich zu infizieren, wie der Rest der Bevölkerung. Zurzeit haben wir mehr Pflegekräfte in den vollstationären Pflegeeinrichtungen in Quarantäne, als sich Bewohner infiziert haben. Ein großer Träger kann es vielleicht ausgleichen, wenn ihm in einer Einrichtung ein Drittel der Belegschaft wegbricht. Aber was machen die Kleinen? Wir haben einen kleinen Puffer geschaffen durch die Schließung der Tagespflege, aber ich muss in der Lage sein, in Krisenfällen auch Personal dorthin zu organisieren.
Das soll über das Epidemiegesetz laufen, mit dem Sie medizinisches Fachpersonal zur Arbeit verpflichten können. Dagegen gibt es verfassungsrechtliche Bedenken. LAUMANN Es gibt auch führende Juristen, die keine Vorbehalte haben. Mich ärgert, dass jetzt sogar schon von Zwangsarbeit die Rede gewesen ist. Wer mich kennt, weiß, dass Arbeitnehmerrechte für mich ein sehr hohes Gut sind, für das ich schon seit Jahrzehnten politisch kämpfe. Ich hätte im Übrigen kein Problem damit, wenn der Einsatz einem Parlamentsvorbehalt unterliegt. Aber wir müssen doch Möglichkeiten schaffen, dass die Freiwilligen, die psychisch und physisch am Ende sind, auch ein Stück weit entlastet werden können.
Die Sorge der Niedergelassenen ist, dass sie zwangsverpflichtet werden. LAUMANN Das ist doch Blödsinn. Ein Gesundheitsminister wird nicht ein funktionierendes Hausärztesystem gefährden, in dem drei Viertel aller Covid-19-Patienten mit leichten Symptomen behandelt werden. Es geht mir um andere Gruppen.
Welche?
LAUMANN Etwa diejenigen, die in den Krankenkassen, den Lebensversicherungen oder bei der Rentenversicherung arbeiten.
Die dann aber wenig Fronterfahrung mitbringen.
LAUMANN Wenn ich die Wahl zwischen keinem Arzt und einem Arzt mit wenig praktischer Erfahrung habe, entscheide ich mich für Variante zwei.
Bayern will allen Pflegekräften im Freistaat einen steuerfreien 500-Euro-Bonus zahlen. Was zahlt NRW? LAUMANN Ich will eine solche Bonuszahlung weder ausschließen noch versprechen. Aber am Ende löst die doch nicht das grundlegende Problem. Die Arbeitgeber sollten sich nach Bewältigung der Krise mal ernsthaft fragen, ob sie bei ihrer Verweigerungshaltung bleiben können und sich gegen einen Tarifvertrag wehren.
Kritik gibt es an der möglichen Beschlagnahmung von medizinischem Material, die durch das Gesetz möglich wäre. Die Krankenhaus-Einkaufsgenossenschaft Clinicpartner lässt Waren bereits außerhalb von NRW lagern. Klingt so, als erzielten Sie das Gegenteil dessen, was Sie bezwecken wollten. LAUMANN Der Fall ist mir nicht bekannt. Mir geht es auch nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen. Ich will aber einen Überblick darüber haben, wo es außerhalb der Kliniken Beatmungsgeräte gibt, die wir im Ernstfall heranziehen können. Wenn die Krise da ist und Sie erst langwierig herumtelefonieren müssen, um diese Geräte zu suchen, geht Ihnen wertvolle Zeit verloren. Das ist im Ernstfall Zeit, die über Leben und Tod entscheiden kann.
Eine Entschädigung soll nur auf Höhe des Vorkrisenniveaus erfolgen. Warum nicht der Zeitwert zum Stichtag der Beschlagnahmung? LAUMANN Wir zahlen den Vorkrisenpreis, weil auch zum Vorkrisenpreis eingekauft wurde. Es soll keiner Profit aus der Krise schlagen.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben bemängelt, dass es immer noch bei der Schutzausrüstung hapert. Die Rede ist davon, dass der Arbeitsschutz nicht gewährleistet sei. Was tun?
LAUMANN Die Situation dürfte inzwischen allen klar sein: Der Markt ist leergefegt und nicht mehr existent. Wir tun alles Menschenmögliche, um Material zu beschaffen. Da sind die KVen im Übrigen auch selbst gefragt.
Wie wollen Sie gegen die schwarzen Schafe bei den Anbietern für medizinische Schutzausrüstung vorgehen?
LAUMANN Da haben wir keine Handhabe.
Die Bundesregierung will auf dem Verordnungsweg Arbeitszeiten für Beschäftigte in systemrelevanten Berufen verlängern. Unterstützen Sie das?
LAUMANN Ja, aber es darf nicht ausufern. Die Corona-Krise ist ein Dauerlauf. Pausen und Ruhezeiten dürfen nicht so sehr zusammengestrichen werden, dass die Menschen am Ende kollabieren.Viele Arbeitgeber haben das aber im Blick. Die großen Handelsketten dürften ja an den Sonntagen verkaufen, tun es aus Rücksicht auf die Belegschaft aber nicht.