„Sehnsucht nach Gemeinschaft ist spürbar“
Der Präses der rheinischen Landeskirche spricht über verändertes Gemeindeleben und darüber, wie die Kirche auf die Krise reagiert.
Seit sieben Jahren ist Manfred Rekowski Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Der 62-Jährige schaut auf ein Osterfest in ganz und gar ungewöhnlichen Zeiten. Wegen der Corona-Krise müssen in den Kirchen Gottesdienste ohne Besucher gefeiert werden.
Was hat sich für Sie verändert – seit der Corona-Krise und dem Kontaktverbot?
REKOWSKI Ich spare zunächst unheimlich viel Fahrtzeit, weil auch ich im Homeoffice bin und darum nicht von Wuppertal nach Düsseldorf fahren muss. So erlebe ich derzeit tatsächlich eine Art entschleunigte Zeit. Sämtliche Konferenzen finden per Video statt, und das heißt auch, dass die Krise in der Kirche einen ungeheuren Digitalisierungsschub ausgelöst hat.
In diesen Tagen des Rückzugs scheint überall schon so etwas wie Karfreitagsstimmung zu herrschen. REKOWSKI Genau das ist mir vor ein paar Tagen noch einmal durch den Kopf gegangen: Welche Diskussionen wir immer wieder geführt haben, wie wir mit den stillen Tagen eigentlich angemessen umgehen! Sogar das Tanzverbot wurde infrage gestellt. Und jetzt erleben wir seit vielen Tagen eine Situation, in der das öffentliche Leben sehr runtergefahren wurde. Wir werden also in diesem Jahr mit Karfreitag einen absoluten stillen Feiertag haben; und wir bereiten uns jetzt praktisch schon darauf vor.
Wie auch viele Menschen jetzt schon eine Innenschau betreiben – ohne erst einmal an Karfreitag zu denken.
REKOWSKI Von meinem Arbeitszimmer in Wuppertal schaue ich auf eine Straße, die normalerweise sehr belebt ist. Und da ist seit einigen Tagen deutlich weniger los. An vielen Orten ist Wuppertal menschenleer – und das ist bei sonnigem Wetter noch einmal ein beklemmendes Gefühl.
Gerade dieser Gegensatz macht das alles zu einem für viele irritierenden, unbegreiflichen Vorgang. . . REKOWSKI . . .es ist doch so, dass für eine ganze Generation hierzulande dieses Wohlstandsversprechen galt: Es geht immer weiter und fast immer aufwärts. Jetzt erleben wir, wie es vom fünften Gang praktisch in den Rückwärtsgang geht. Eine Generation erfährt in aller Welt diese Irritation. Was lange Zeit ungefragt für unsere Generation galt, ist plötzlich völlig außer Kraft gesetzt. Das hat etwas Verstörendes und Verunsicherndes. Zugleich ist es der Einstieg zu einer Neuorientierung, wobei niemand sagen kann, wie das am Ende aussehen wird.
Wird die Kirche sich nicht ohnehin in und nach der Krise neu orientieren müssen – auch vor dem Hintergrund, dass die Kirchensteuereinnahmen massiv zurückgehen werden?
REKOWSKI Bei unseren innerkirchlichen Diskussionen haben wir bislang oft auf das Bewährte verwiesen. Jetzt haben wir einen Schnellkurs zu absolvieren, wie wir als Kirche unter völlig anderen Bedingungen arbeiten und wirken können. Wir fragen uns: Wenn Vieles von dem, was wir kennen, künftig nicht mehr geht, was geht dann? Die Krise hat viel ausgelöst – und das eröffnet neue Wege. Uns sind nämlich die Argumente – das geht doch nicht und das haben wir immer so gemacht – völlig aus der Hand genommen worden. In einer so extrem anderen Situation muss man anders denken und auch anders handeln. Darum bin ich jetzt über die Bewegung in der Kirche dankbar.
Und die Finanzen?
REKOWSKI Wir gehen davon aus, dass wir in diesem Jahr – nach ersten Schätzungen! – zwischen zehn bis 15 Prozent Mindereinnahmen haben werden, unter anderem durch die Kurzarbeit. Das wird uns zu einer veränderten Arbeit zwingen. Selbstkritisch gesehen: Auch in der Kirche sind Veränderungen oft erst unter Drucksituationen möglich. Nur aus Einsicht, als Ergebnis eines Beratungsprozesses, kommt so etwas relativ selten vor. Erst bei äußerem Druck wird ganz viel möglich.
Sind das – neben neuen Strukturen – auch Erkenntnisprozesse, in die wir durch die aktuellen Entwicklungen gestoßen werden? REKOWSKI Ja, unter anderem: Strukturelle Kontinuität wird immer seltener möglich sein. Wir müssen uns viel häufiger in vermutlich auch kürzeren Abständen in unserer Arbeit neu sortieren. Aber das können wir meiner Meinung nach mit Gottvertrauen und Zuversicht auch tun.
Alle Veränderungen sind mit Ängsten verbunden. Sind Umbrüche auch ein Zeichen von Vitalität? REKOWSKI Unbedingt. Wir erleben in der Tat, wie viel Kreativität in den Gemeinden freigesetzt wird. Ich erlebe in unserer Kirche derzeit keine Stimmung der Depression und des Widerstandes. Es herrscht vielmehr eine große Bereitschaft, die Situation anzunehmen mit dem Auftrag, den Menschen nahe zu sein.
Die konkrete Nähe ist derzeit nur sehr bedingt möglich. Wird jetzt eine Sehnsucht nach Gemeinschaft spürbar, die Glaubenserfahrung mit anderen zu teilen?
REKOWSKI Unser christlicher Glaube lebt von dem gemeinschaftlichen Erleben. Im Matthäus-Evangelium heißt es ja: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Das bekommt jetzt eine ganz eine besondere Bedeutung. Es ist die Erfahrung realer Gemeinschaft, die für den Glauben konstitutiv ist. Dass das jetzt außer Kraft gesetzt wird, hat auch etwas zutiefst Beunruhigendes. Wir müssen uns der Frage stellen, wie wir das Gemeinschaftliche unter veränderten Bedingungen leben können. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist massiv spürbar.
Haben Sie sich in den zurückliegenden Tagen und Wochen hilflos gefühlt und selbst Angst verspürt? REKOWSKI Als ich die Bilder aus Italien gesehen habe mit dem Abtransport der Särge in LKW, dann waren das für mich Momente, in denen ich mich mit großer Sorge gefragt habe, wohin sich all das entwickeln wird. Dazu kommt: Ich bin begeisterter Großvater. Auch vor diesem Hintergrund erlebe ich das Kontaktverbot persönlich als schmerzhaft. Aber Karfreitag ist auch ein Tag der Klage, an dem ich das, was mich bedrückt, auch vor Gott bringen und ihm im Gebet praktisch vor die Füße werfen kann. Die Klage erhebe ich bewusst gemeinsam mit anderen Menschen und vertraue darauf, dass kein Augenblick im Leben ohne Gott und seine Nähe ist.
Wird Gott in dieser weltweiten Krise für uns Menschen unbegreiflich? REKOWSKI Ich erinnere mich an frühere Beerdigungssituationen, wo ich fast sprachlos war vor der abgrundtiefen Trauer der Menschen, die vor mir standen. Da musste ich oft an die Worte Jesu am Kreuz denken: Mein Gott, mein Gott, warum hast die mich verlassen! Aber wir glauben, dass Gott auch in der Not gegenwärtig ist. Das ist eine Erfahrung, die wir momentan verstärkt erleben.
Haben Sie die Klage an Gott auch vorgebracht, als Sie die Diagnose der Krebserkrankung bekommen haben?
REKOWSKI Das war eine zutiefst verunsichernde Erfahrung. Mich hat die Diagnose erst einmal umgehauen – wie das so ist, wenn man sich eigentlich gesund fühlt und dann nach einer routinemäßigen Untersuchung erfährt, dass man chronisch erkrankt und mit dieser Erkrankung bis zum Ende leben muss. Da habe ich auch die Fragen an Gott gerichtet: Warum ich? Warum jetzt? Warum diese Krankheit? Das Fragen hat mir wirklich geholfen; ich hatte dann das Gefühl, getragen und gehalten zu sein.
Sind Notzeiten wie die gegenwärtige gute Zeiten für intensive Glaubenserfahrungen?
REKOWSKI Niemand wünscht sich Notzeiten als Konjunkturprogramm für die Kirche. Das wäre ziemlich zynisch. Aber natürlich ist es so, dass in besonders außergewöhnlichen Situationen die Menschen auf ihr Leben anders blicken und dann auch andere Fragen stellen. Sie denken mehr nach. Insofern ist die „Auftragslage“für Kirche und Diakonie derzeit ausgesprochen gut: Die Menschen suchen nach Seelsorge, Beratung und Lebenssinn.
Wie groß ist die Gefahr, dass später eine Art Weihnachtseffekt eintritt. Dass also nach dem besonderen Ereignis die Menschen in normalen Lebenslagen wieder einfach weitermachen wie früher?
REKOWSKI Ich bin immer sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, wie nachhaltig so etwas dann auch ist. Es ist nicht unsere Aufgabe danach zu schauen, was für die Kirchentwicklung gut oder schlecht ist. Sondern: Was brauchen die Menschen jetzt! Wenn wir bei unserem Auftrag und bei den Menschen sind, dann machen wir alles richtig.