Mit „Amazing Grace“wurde Aretha Franklin unsterblich
Es ist heiß in der „New Temple Missionary Baptist Church“in Watts, Los Angeles. Man spürt die Raumtemperatur durch das grobkörnige 16mm-Material hindurch, mit dem dieser Film 1972 aufgenommen wurde. Die afroamerikanische Kirchengemeinde ist hier vereint, um ihren Glauben und um eine Stimme zu feiern, von der viele damals wie heute behaupten, dass sie von Gott berührt worden sei: Aretha Franklin.
1972 hatte die „Queen of Soul“schon mehr als 20 Alben veröffentlicht und fünf Grammys gewonnen. Einige Kritiker warfen ihr damals vor, dass sie im kommerziellen Erfolg ihre spirituellen Wurzeln verloren habe. Hier in der baptistischen Kirche, die früher einmal ein Kino war und über deren Altar ein wuchtiges Jesus-Porträt prangt, beweist sie nun an zwei Nachmittagen im Januar, wie sehr sie mit der Gospel-Musik verbunden ist. Das Album „Amazing Grace“, das aus dem Konzertmitschnitt entstand, ist heute noch das meistverkaufte ihrer Karriere.
Der junge Sydney Pollack begleitete das Musik-Event damals mit der Kamera, aber technische Probleme bei der Synchronisierung von Bild und Ton führten dazu, dass der Film nie fertig gestellt wurde. Erst mit neuer Digitaltechnologie bekam Produzent Alan Elliott die Probleme in den Griff. Und so erblickt nun mit 47-jähriger Verspätung und ein Jahr nach Franklins Tod dieses einmalige Musikdokument das Licht der Leinwand; zugleich ist es auf DVD und in allen Streaming-Diensten zu bekommen.
„Amazing Grace“ist ein ergreifender Konzertfilm, gerade auch weil er sich mit formaler Schlichtheit auf seine Protagonistin, ihr hingerissenes Publikum und die enorme, energetische Wirkung der Musik konzentriert. Der Film ist mit seinem ruhigen Schnitt, sparsamen Nahaufnahmen und grundentspannten Rhythmus in jeglicher Hinsicht eine Anti-Music-Clip, das sich ganz Franklins Talent anvertraut. In einem schlichten, weiten, weißen Kaftankleid steht sie auf der Kirchenbühne. Ohne jegliches Show-Gehabe lässt sie ihre Stimme durch den Saal schweben, die das Publikum immer wieder aus den Sitzen reißt, zu begeisterten Zwischenrufen oder Tanzeinlagen verleitet.