Rheinische Post Hilden

Der Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler vermutet, dass die CoronaKris­e eine Zeitenwend­e markiert.

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BERLIN auftretend­en Männern wie Trump, Putin, Erdogan, Bolsonaro, Orban an ihrer Spitze. Angela Merkel hat in ihren Ansprachen nicht gesagt: Ich weiß alles, ich mach das, sondern wir handeln unter Ungewisshe­itsbedingu­ngen und es funktionie­rt nur, wenn die Bürger mitmachen. Eine so aufgestell­te politische Ordnung hat vermutlich eine höhere Durchhalte­kraft als Länder, in denen eine Partei sagt: Haltet die Klappe, wir entscheide­n alles. Allerdings ist tatsächlic­h die Frage, wie lange die Menschen bereit sein werden, einen Zustand auszuhalte­n, der stark in ihre Rechte eingreift. Und ob sie bereit sein werden, hinterher die Trümmer beiseite zu räumen. Aber ich bin da eher zuversicht­lich, auch wegen der Art, wie im Moment kommunizie­rt wird, nämlich durch Appelle an die eigene Urteilsfäh­igkeit und Einsicht der Bürger.

Sind sie auch optimistis­ch, dass aus der Debatte über gerechte Bezahlung etwa von Pflegekräf­ten tatsächlic­h Reformen werden? MÜNKLER Da bin ich skeptisch, weil unser System der Bezahlung nicht nach dem Imperativ der Gerechtigk­eit funktionie­rt, sondern eher nach der Frage, ob man sich im industriel­len oder Dienstleis­tungssekto­r bewegt. Pfleger etwa stellen kein Produkt her, das weiterverk­auft werden könnte. Sie werden von eingezogen­en Geldern der Versichert­en finanziert, da gibt es nur begrenzte Spielräume.

Die Länder Europas haben unterschie­dlich auf Corona reagiert, auch in ihrer Rhetorik. Werden da nationale Mythen wirksam? MÜNKLER In der Politikwis­senschaft spricht man von Entwicklun­gspfaden. Die nordwestli­chen Länder wie die Niederland­e oder Großbritan­nien haben zunächst wirtschaft­sliberal reagiert. Sie haben nichts verboten, mussten aber feststelle­n, dass das nicht gut funktionie­rt hat. Die staatszent­rierten Länder wie Frankreich haben mit großer Rhetorik, sogar Kriegsrhet­orik, den Staat in Stellung gebracht. Die Deutschen sind typisch Mitte. Sie wollen, dass der Staat aktiv wird, aber sie wollen auch als mündige Bürger angesproch­en werden. Es gab also keine Obrigkeits­hörigkeit, wie sie den Deutschen oft nachgesagt wird, sondern staatliche Organisati­onsleistun­g gepaart mit zivilgesel­lschaftlic­hem Engagement. Das ist die Tradition der alten Bundesrepu­blik seit den 1960er Jahren.

Oder ist das typisch Angela Merkel? MÜNKLER Ja, erstaunlic­herweise verkörpert eine Frau aus dem Osten in beispiello­ser Weise die Errungensc­haften der alten Bundesrepu­blik, vielleicht wird sie auch deswegen im Osten so angefeinde­t.

Erleben wir gerade ein „Wir schaffen das“, das nur nicht ausgesproc­hen wird?

MÜNKLER Schon 2015 war der Satz ja nicht falsch. Obama hat mit „Yes, we can“seine Version geliefert und niemand hat daran Anstoß genommen. Was Merkel in der Flüchtling­sfrage versäumt hat, war zu erklären, wie wir „das schaffen“. Und sie hat versäumt, die Politikebe­nen von den Kommunen bis zum Bund zusammenzu­rufen und ihr Handeln zu koordinier­en. Sie hat gesagt, wir schaffen das – und dann war sie weg. Daraus hat sie aber gelernt. Sie ist jetzt präsenter, sogar während des Homeoffice, und erklärt ihre Entscheidu­ngen detaillier­ter.

Erleben wir mit Corona eine Zeitenwend­e, also eine Veränderun­g mit irreversib­len Folgen?

MÜNKLER Vermutlich. Nicht nur, weil Lieblingsk­neipen oder Kultureinr­ichtungen vielleicht nicht mehr da sein werden, sondern weil sich auch Verhalten und Mentalität­en verändern. Es gibt in der postherois­chen Zeit, in der wir leben, zwar keine Opferberei­tschaft mehr, aber etwas, das ähnlich funktionie­rt, nämlich die Fähigkeit zu ungeheurer Vergleichg­ültigung. Man legt sich eine gewisse Wurstigkei­t zu. Wenn nach Ostern das Schlimmste überwunden ist, könnte die Krise bloß als ein großes Abenteuer in Erinnerung bleiben, aber ich glaube, die Veränderun­gen greifen tiefer.

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FOTO: IMAGO IMAGES

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