Die Stimme einer ganzen Welt
Bruno Ganz hat vor seinem Tod ein vergessenes Meisterwerk geborgen: das rätselhafte Melodram „Enoch Arden“von Richard Strauss.
BERLIN Es war eine sehr nette Bekanntschaft, die der weise alte Schauspieler und der vielseitig interessierte, deutlich jüngere Pianist gemacht hatten. Unbedingt wollten sie in Kontakt bleiben und sogar gemeinsame Projekte realisieren, was allerdings nicht einfach war, denn der berühmte Schauspieler war für einige Filmprojekte engagiert. Sein Vorschlag: Er, der Pianist, möge ihn gern oft per Mail erinnern. Und so schlug der 35-jährige Kirill Gerstein dem großen Bruno Ganz immer wieder „Enoch Arden“vor, das sagenumwobene
Ganz macht aus der Ballade ein vibrierendes Ein-Mann-Theater
Melodram von Richard Strauss auf die Ballade des englischen Dichters Alfred Lord Tennyson (1809-1892). Bis eines Tages Antwort von Ganz‘ Ehefrau Ruth Walz eintraf: „Bruno hat das Gedicht gelesen und mag es. Sehr. Wann können die Proben beginnen?“
„Enoch Arden“zieht einen diffusen Schatten durch die Musikgeschichte. Es ist ein Werk, das nur wenige lieben, obwohl es seltsame Faszination ausübt. Strauss hatte es 1897 komponiert, im Alter von 32 Jahren. Es beschreibt die Lebensgeschichte der drei Kinder Enoch, Philip und Annie, die in die Ehe von Enoch und Annie mündet; Philipp geht leer aus. Als Enochs Familie zu darben beginnt, will er auf hoher See Geld verdienen, doch ein Schiffbruch zwingt ihn auf eine einsame Insel. Nach Jahren des Wartens heiratet Annie Philipp. Bei seiner späten Rückkehr steht Enoch vor vollendeten Tatsachen, er stirbt.
Strauss war ebenfalls ein junger Pianist gewesen, als er sich zum Zwecke des Gelderwerbs der Ballade näherte. Doch weil er nicht der brillanteste Klavierspieler unter Gottes Sonne war, passte er den „Enoch“geschmeidig seinen Händen an. Als 1961 der damals noch jüngere, nämlich 28-jährige Pianist Glenn Gould auf das vergessene Werk stieß, warf er dem Opus gehässige Worte nach – und nahm es trotzdem für die Schallplatte auf. Gould schrieb: „Die Ballade ist ein Salonepos, und die Musik enthält Strauss‘ aufs Unangenehmste sentimentale Musik.“Goulds Einspielung mit Claude Rains ist gleichwohl bis heute die berühmteste.
Die neue CD von Ganz und Gerstein aber ist wohl die schönste und ergreifendste. Bruno Ganz, der zweieinhalb Jahre nach der Aufnahme an seiner Krebserkrankung starb, weitet den Text zu einer Hör-Oper, zu einem wunderbar ereignisreichen, wie mit tausend Stimmen gesprochenen Kosmos im Kleinen. Man spürt Ganz‘ Zuneigung zur Titelfigur, aber weinerlich wird er nie.
Ganz hebt seinen „Enoch“aus dem viktorianischen Zeitalter Tennysons auf expressionistische Höhen, ohne dem Schauerdramas Zucker zu geben. Die Ballade ersteht als vibrierendes Ein-Mann-Theater, dem Strauss gleichsam als malerischen Hintergrund, emotional lenkendes Zwischenspiel oder theatralische Verdichtung die Klavier-Requisiten hinstellt, oft in Form leitmotivisch grundierter Färbungen. Nie wird Ganz im filmischen Sinn melodramatisch, er dosiert die Spannung: Das Heroische, das Zarte, das Spielerische, das Resignierende – Ganz‘ Spektrum zwischen Raunen und Wissen ist unendlich.
Beim Hören versteht man jedenfalls, woher das Melodram gattungsgeschichtlich kam und wieso es zu Strauss‘ Zeit so beliebt war. Seinen
vermutlich ersten Anker setzte es als Verbindung von gesprochenem Text und diskreter musikalischer Untermalung in der griechischen Tragödie, auch Shakespeare bediente sich ähnlicher Formen. Später verwob das Melodram Pantomime und Musik. Beethoven verband Wort und Musik im „Fidelio“, als Gesang als Ausdruck menschlichen Leidens nicht mehr ausreichte. In Webers „Freischütz“oder Schuberts „Zauberharfe“gibt es ähnliche melodramatische Felder – bis weit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Konzertmelodram etwa in Max von Schillings‘ „Hexenlied“oder Strauss‘ „Enoch Arden“Gestalt annahm, gefolgt von Busonis „Arlecchino“und vor allem von Schönbergs „Pierrot lunaire“.
Damit wir das Klavier nicht vergessen: Weil Kirill Gerstein die Zwischenspiele nach langen Rezitationsphasen kaum als Aufholjagd des Pianisten begreift, sondern die Musik mit Ruhe und Klugheit konzentriert, finden zwei große Meister zu einer Kunstgemeinschaft zusammen, die ein bewegendes biografisches Psychogramm erarbeitet haben: „Enoch Arden“als Musterfall eines inneren Films, der von einer grandiosen Stimme und von episodischen Klang-Impressionen lebt – und der keine Bühne, keine Kostüme benötigt, um größte Wirkung zu entfalten.