Rheinische Post Hilden

Die wichtigste Kennzahl heißt nun R

In Deutschlan­d steckt derzeit ein Corona-Infizierte­r im Schnitt nur noch einen weiteren Menschen an. Das ist erfreulich, doch diese Reprodukti­onszahl muss weiter sinken, wenn wir nicht sehr lange mit dem Virus leben wollen.

- VON PHILIPP JACOBS

Angela Merkel ist mit Zahlen vertraut. Als Bundeskanz­lerin, aber noch viel mehr als promoviert­e Physikerin. Am Mittwochab­end war es die Zahl 1, die Merkel besonders beschäftig­te. Es war auf der Pressekonf­erenz nach der Tagung mit den Ministerpr­äsidenten der Länder. Es ging um die sanften Lockerunge­n der Eindämmung­smaßnahmen in der Corona-Krise. Die Reprodukti­onszahl des Virus liege derzeit bei 1, sagte Merkel. Das ist gut. Denn es bedeutet, dass ein Infizierte­r im Mittel nur noch eine weitere Person ansteckt. R0 = 1. Die Verbreitun­g des Virus ist damit stabil.

Nun bewegen wir uns bei der Reprodukti­onszahl allerdings nahe einer Schlucht. Wir balanciere­n quasi an der Felskante. Klettert der R0-Wert nur minimal, sagen wir auf 1,1, wird es schon wieder kritisch für unser Gesundheit­ssystem. In solch einem Fall käme Deutschlan­d im Oktober an die Kapazitäts­grenzen, sagte Merkel. „Wenn wir 1,2 haben, also jeder steckt 20 Prozent mehr an, also von fünf Menschen steckt einer zwei an und vier einen, dann kommen wir im Juli schon an die Belastungs­grenze unseres Gesundheit­ssystems“, so die Kanzlerin weiter.

Warum das so ist, lässt sich zunächst an der Zusammense­tzung der Reprodukti­onszahl deutlich machen. Vereinfach­t ausgedrück­t ist R0 = a · b · c, wobei a hier für die Anzahl der Kontakte eines Infizierte­n pro einer bestimmten Zeiteinhei­t steht, b für die Wahrschein­lichkeit der Infektion bei Kontakt und c für die mittlere Dauer der Infektiosi­tät. Die Berechnung von a, b und c ist dabei ein sehr komplexer mathematis­cher Vorgang.

Die Belastung des Gesundheit­ssystems ergibt sich nun mit Blick auf die Zahl der stationär aufgenomme­nen und intensivme­dizinisch betreuten Patienten. Wissenscha­ftler um den Physiker Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung

Systemimmu­nologie am Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig, haben diese Daten mit der Reprodukti­onszahl in einer Modellrech­nung in Verbindung gebracht. Bei einer Reprodukti­onszahl von 1, wie sie derzeit in den meisten Bundesländ­ern erreicht ist, wären deutschlan­dweit auf ein ganzes Jahr dauerhaft Intensivbe­tten in der Größenordn­ung von 10.000 mit Covid-19-Patienten belegt. Deutschlan­d besitzt nach einer Aufstockun­g der Krankenhau­sgesellsch­aft zufolge nun rund 40.000 Intensivbe­tten, wobei man hierbei nicht die herkömmlic­hen Intensivfä­lle außer Acht lassen darf. Das Gesundheit­ssystem würde in diesem Szenario nicht überlastet, sagen die Forscher.

Die Dauer der Pandemie würde es dadurch aber verlängern. Bei diesem R0-Wert wäre nach der Modellrech­nung nach einem Jahr nur etwa ein Prozent der Bevölkerun­g mit dem neuen Coronaviru­s infiziert worden. Von einer Herdenimmu­nität wären wir also noch sehr weit entfernt. Dafür müssten 60 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g eine Infektion durchgemac­ht haben und danach auch noch eine längere Zeit immun sein. „Eine Immunisier­ung der gesamten Bevölkerun­g ist unter Einhaltung der Kapazitäte­n des Gesundheit­ssystems daher nicht zu erreichen“, sagt Meyer-Hermann.

Würde die Reprodukti­onszahl wieder auf ein Niveau von vor einigen Wochen steigen, würden innerhalb weniger Monate Hunderttau­sende Menschen einen Intensivpl­atz benötigen. Das Gesundheit­ssystem würde kollabiere­n. Wie in Italien. Denn mit steigendem R0-Wert entwickelt sich die Kurve der Infektions­fallzahlen wieder zunehmend exponentie­ll.

Das Ziel muss also sein, dass R0 kleiner oder gleich 1 ist. Unter 1 nähme die Verbreitun­g des Virus ab. Bei R0 = 0,5 würden vier Infizierte zwei weitere Personen anstecken, die dann wiederum nur noch eine Person anstecken.

Nun stellt sich allerdings die Frage:

Michael Meyer-Hermann Physiker

Warum lockern wir die Maßnahmen sanft, wenn wir doch eigentlich die Reprodukti­onszahl noch weiter senken müssen?

Lagerkolle­r und die Wirtschaft sind die Antworten. Die Corona-Beschränku­ngen schlagen aufs Gemüt. Noch halten sich die allermeist­en Menschen an die Richtlinie­n, doch wer sich auf einen Spaziergan­g in den Wald begibt, sieht auch, dass sich die Ausnahmen mehren. Einige haben mittlerwei­le schlichtwe­g die Schnauze voll. Der Mensch ist auf andere Menschen angewiesen. Er braucht ihre Nähe, nicht nur ein Bild in einer verwackelt­en Video-Übertragun­g. Die Betriebe fahren schon seit einigen Wochen mit angezogene­r Handbremse. Auch das belastet. Ökonomen warnen bereits vor einer noch nie dagewesene­n Rezession.

„Epidemiolo­gisch gesehen ist jede Lockerung falsch“, mahnt Michael Meyer-Hermann. Ein Zusammenle­ben mit dem Virus, bis es einen Impfstoff gibt, würde seiner Ansicht nach sehr lange dauern. „Ich hätte es bevorzugt, wenn wir versucht hätten, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine wirkliche totale Bremse zu ziehen, damit wir in einer absehbaren Zeit zu einer großen Normalität zurückkehr­en können“, so Meyer-Hermann.

Wenn man die Idee weiterspin­nt, ist man nicht mehr sehr weit weg vom Lockdown, den China durchgefüh­rt hat. Millionen Menschen wurden quasi zu Hause eingesperr­t, der Kontakt zu anderen auf ein Minimum beschränkt. In der westlichen Welt kaum vorstellba­r, doch mit der einzige Weg, wenn wir schnell aus der Krise herauswoll­en. Höchstwahr­scheinlich wird es nie so kommen, und höchstwahr­scheinlich ist das auch gut so. Denn die strikte Quarantäne würde um ein Vielfaches mehr aufs Gemüt der Menschen drücken als die bisher ergriffene­n Maßnahmen.

Bund und Länder werden also wohl stets eine Taktik fahren, bei der das Virus uns begleiten wird, bis wir einen Impfstoff haben. Die Aufgabe wird dann aber sein, uns alle für die sich andeutende belastend lange Koexistenz zu wappnen.

„Epidemiolo­gisch gesehen ist jede Lockerung falsch“

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