Arme Kinder sind die Verlierer der Krise
Das Vorstandsmitglied der Düsseldorfer Tafel über die aktuelle Arbeit der Hilfsorganisation
Seit 2014 ist Eva Fischer (45) Vorstandsmitglied der Düsseldorfer Tafel, die auch eine der ältesten hierzulande ist. Hier ist Fischer unter anderem verantwortlich für die Beschaffung von Spendengeldern. Im Sommer 2019 wurde sie außerdem zur stellvertretenden Vorsitzenden der Dachorganisation Tafel Deutschland berufen. Aus der Werbung, wo sie Etat-Direktorin war, zog es sie damals in den sozialen Bereich. Ein Schritt, den sie nie bereute und der viele Erkenntnisgewinne mit sich brachte, wie sie sagt.
Inwiefern hat sich Ihr radikaler Jobwechsel gelohnt?
EVA FISCHER Ich denke mir jeden Tag: Ich mache etwas Sinnvolles. Die Idee der Tafel hat mich schon immer fasziniert. Es ist gut und richtig, überflüssige Lebensmittel vor dem Müll zu retten und denen zu geben, die sie dringend brauchen, da stehe ich 100 Prozent hinter. Und das ist ja heute aktueller denn je, in Zeiten von Klimaschutz die Ressourcen zu schonen und sinnvoll zu verteilen. Die Tafeln sind der größte Lebensmittelretter. Das ist schon stark.
Die Bedeutung der Tafel ist im Laufe ihrer gut 25-jährigen Geschichte sicher gewachsen. Wie schätzen Sie das ein?
FISCHER Die Zahl der Bedürftigen ist stetig gestiegen. Am Anfang waren es vermutlich „nur“mehrere hundert Menschen, denen wir helfen mussten. Wir sind ja gestartet mit der Versorgung Obdachloser. Aufgrund von Sozialreformen wie mit Hilfe der Bürgerstiftung mit Gutscheinen zu helfen, haben aber sicher nicht alle erreicht.
Welchen Erkenntnisgewinn ziehen Sie hieraus?
FISCHER Alle sehen, was es heißt, wenn die Tafel nicht da ist, es müssen große Anstrengungen getätigt werden, um die Lücke zu füllen. Viele Düsseldorfer sind wachgerüttelt, und das ist für eine Gesellschaft auch heilsam. Eine gewisse Dankbarkeit und Demut ist spürbar.
Wie groß ist die Solidarität in Zeiten von Corona?
FISCHER Ich finde vieles ausgesprochen löblich. Die Stadt Düsseldorf schuf Alternativen. Es gibt herausragende Projekte wie etwa mit der
Bürgerstiftung – wir sammelten zusammen Geld für Einkaufsgutscheine, von denen wir mittlerweile 2000 Stück im Wert von 25 Euro verschickten – als erste Überbrückungsmaßnahme. Das Andreas-Quartier startete mit uns eine Hilfsaktion am Mutter-Ey-Platz, lässt täglich Mittagessen für die Tagesstätte Shelter kochen und für 50 Kinder in der Schule an der Flurstraße. Die Kindertafel gibt es im Moment ja auch nicht. Ich bin auch sehr berührt, weil es ein wahnsinnig großes Interesse von jungen Menschen gibt. Die wollen helfen, bieten an, mit ihrem Fahrrad Essen herumzufahren, sie wollen Atemschutzmasken nähen. Es gibt ein breites Feld der Solidarität. Hinzu kommt, dass wir das Glück haben, sowieso schon viele ehrenamtliche Helfer bei der Düsseldorfer Tafel zu haben, nämlich 60.
Wann werden die Tafeln wieder öffnen?
FISCHER In dieser Woche fahren wir unsere Aktivitäten wieder hoch. Erste Ausgaben werden wieder öffnen, am Montag die in Lierenfeld, Dienstag in Benrath, Mittwoch und Donnerstag ist Derendorf dran. In der vergangenen Woche haben wir hier ja schon mal „geprobt“. Wir starten langsam und klein, mit Tüten unter freiem Himmel. Die Tafeln in Garath und Rath bleiben vorerst geschlossen, das haben die Träger so entschieden – die Lebensmittelausgabestellen sind ja in Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden oder Kirchengemeinden.
Wenn Sie normalerweise bis zu 8000 Menschen in der Woche versorgen, mit wie vielen rechnen Sie in der kommenden Woche?
FISCHER Etwa 2000 Menschen könnten es werden, vielleicht 1500. Wir planen selbstredend ganz klare Regeln: Hygienemaßnahmen, Sicherheitsabstand, Mundschutz, Handschuhe, keine Gruppen, einzeln, immer nur eine Person pro berechtigtem Haushalt darf kommen, keine Kinder.
Die Leute kaufen ja mehr als sonst. Wie sieht es denn im Moment aus mit den Lebensmitteln, die normalerweise auf dem Müll landen? FISCHER Das stimmt. Die Lebensmittelhändler haben gerade nicht viel an Spenden, und fast alles – rund 90 Prozent – kommt von denen, es gibt aber gerade nicht viel, weil die Leute so viel kaufen, es gibt kaum Überschuss.
Was bedeutet das für Ihre Tafel, müssen Sie die Leute dann wieder wegschicken?
FISCHER Ich kann keine wirklichen Prognosen abgeben. Es könnte aber tatsächlich eng werden. Wir können auf jeden Fall nichts kaufen. Das, was wir machen, ist ja alles freiwillig, es gibt auch keinen Anspruch auf Lebensmittel von uns. Hoffen wir das Beste.
Wie ist die Stimmung unter den Menschen, die auf die Düsseldorfer Tafel setzen?
FISCHER Es kommen Anrufe und die Menschen fragen, ob sie zu einer Tafel in einer anderen Stadt gehen können. Sie wollen wissen, wann es wieder los geht. Tiefe Verzweiflung hielt sich bislang Gott sei Dank in Grenzen. Aber eine große Verunsicherung ist spürbar. Ein Drittel der Besucher ist älter als 65 Jahre, die sind oft nicht mehr ganz so flexibel.
Sie sprachen eben die Kindertafel an, die ja wegen Corona auch außer Kraft gesetzt ist, Kinder aus einkommensschwachen Familien bekommen ein Mittagessen in der Schule. Was bekommen sie von dieser Altersgruppe mit?
FISCHER Kinder aus bedürftigen Familien sind vermutlich die ganz großen Verlierer der Corona-Krise. Homeschooling hört sich so selbstverständlich an, ist es aber gar nicht. Wenn die Kinder per Videotelefonie lernen, dann ist es ihnen vielleicht peinlich, dass andere sehen könnten, wie einfach oder beengt sie leben. Scham spielt hier eine große Rolle. Viele Kinder haben zu Hause gar kein Internet, eine technische Ausstattung ist nicht vorhanden, die Eltern können ihren Kindern auch nicht erklären, wie sie mit den neuen Medien umgehen müssen. Ich hörte von einem Mädchen, das jeden Tag in den Supermarkt geht, weil es da Wlan gibt.
Was geht da in Ihnen vor, wenn Sie so etwas hören?
FISCHER Ich mache mir schon viele Gedanken. Fakt ist, dass wir große wirtschaftliche Konsequenzen haben werden, viele werden arbeitslos, gehen in Kurzarbeit, es steht weniger Geld zur Verfügung, der Ansturm auf die Tafeln wird wachsen. Das kann man sich an fünf Fingern abzählen. Ich hoffe, dass nicht noch allzu viel mehr kommen werden, denn mehr Lebensmittel werden wir künftig definitiv nicht haben.
Wie schaffen Sie es, positiv und optimistisch zu bleiben?
FISCHER Ich bin vom Naturell her schon positiv, das Glas ist eher halbvoll als halbleer, und es wird viel gemacht in Deutschland. Jeder kann nur sein Möglichstes tun. Wir werden die Welt nicht perfekt machen können. Wir müssen realistisch bleiben, was unsere Möglichkeiten anbetrifft. Was sich aber jetzt noch einmal mehr herauskristallisiert: Es ist weiter unumgänglich ist, in Schulbildung zu investieren, damit Kinder aus armen Familien nicht abgehängt werden und aus der Armutsspirale rauskommen. Das zeigt sich für mich gerade ganz deutlich auch am Beispiel Homeschooling.
Info Besuchen Sie auch die neue Plattform der Rheinischen Post unter www. rp-gemeinsamstark.de Auf dieser Plattform wollen wir Helfer und Hilfsbedürftige zusammenführen, beispielsweise für den Einkauf für einen älteren Nachbarn oder das Hifspaket für Obdachlose. Gleichzeitig wollen wir einen Marktplatz für Dienstleistungsunternehmen aus Handel, Handwerk und Gastronomie schaffen, die durch die Krise in Not geraten sind.