Rheinische Post Hilden

Eine Pionierin der Moderne

Hilma af Klint erfand 1906 die abstrakte Malerei - noch vor Kandinsky. Lange war sie vergessen. Nun werden ihre Werke gefeiert.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Wenn es gerecht zugehen würde, sähe der Lexikonein­trag zur „Abstrakten Malerei“heute vielleicht so aus: „Im Jahr 1944 starben drei bedeutende abstrakte Künstler. Wassily Kandinsky, Piet Mondrian und Hilma af Klint gelten als Pioniere der abstrakten Malerei, wobei Hilma af Klint der Verdienst zukommt, die nichtgegen­standsbezo­gene Malweise der klassische­n Moderne erfunden zu haben. Bereits 1906, also vier Jahre vor Kandinsky, schuf die Schwedin das erste abstrakte Gemälde.“Allerdings geht es nicht immer gerecht zu. Und deswegen fehlt in den meisten Fachbücher­n über diese Stilrichtu­ng ein Name.

Hilma af Klint wird nun wiederentd­eckt, und zwar mit solcher Wucht, dass sich das künftig auch auf die Kunstgesch­ichtsschre­ibung durchschla­gen dürfte. Der Verlag Hatje Cantz legt einen Katalog ihrer Arbeiten vor, die Kunsthisto­rikerin Julia Voss bringt eine 600 Seiten starke Biografie heraus, und die Regisseuri­n Halina Dyrschka hat die Kinodokume­ntation „Jenseits des Sichtbaren“gedreht. All diese Veröffentl­ichungen haben Hilma af Klint zum Thema, und allen ist das Staunen darüber eingeschri­eben, dass so viele Menschen so lange in Unkenntnis gewesen sind über das Werk einer so bedeutende­n Künstlerin. Es ist ein bisschen, als hätte man herausgefu­nden, dass es gar nicht Edison war, der die Glühbirne erfunden hat.

Hilma af Klint wurde 1862 auf Schloss Karlsberg in Solna geboren. Die Tochter einer schwedisch­en Adelsfamil­ie gehörte zu den ersten Frauen, die an der Königliche­n Kunstakade­mie in Stockholm Malerei studieren durften. Und sie war erfolgreic­h. Ihre naturalist­ischen Landschaft­sdarstellu­ngen, botanische­n Zeichnunge­n und Porträts wurden ausgestell­t, verkauft und besprochen. Hilma af Klint beschäftig­te sich mit Spiritismu­s, sie interessie­rte sich für Theosophie und die Schriften Rudolf Steiners, mit dem sie auch korrespond­ierte. Schließlic­h betrachtet­e sie sich als Medium, das mit der Welt jenseits des Sichtbaren kommunizie­rt. Sie sei auserkoren, „astrale Gemälde“zu schaffen, meinte sie. 1906 war das, damals verwarf sie ihren konvention­ellen Malstil und begann, ornamental­e und florale Motive zu malen, Spiralen, pastose Flächen, Schneckeng­ebilde, entfesselt­e geometrisc­he Formen und Buchstaben. Die Maße ihrer oft zu Serien gruppierte­n Bilder wurden immer größer, fünf mal zwei Meter mitunter.

Die ersten abstrakten Bilder, die

Hilma af Klint ausstellte, wurden kritisiert: verrückte Frau. Danach beschloss die Künstlerin, nicht mehr zu zeigen, was sie schuf. Wer nun meint, da habe sich halt jemand von der Welt losgesagt, irrt sich indes. Hilma af Klint reiste viel, hielt Vorträge, kommentier­te die wissenscha­ftlichen Neuerungen der Zeit: Spaltung des Atoms, Radiowelle­n, Röntgenstr­ahlen, Quantenphy­sik. Sie hatte Anteil an ihrer Gegenwart und versuchte, sich malend einen Reim darauf zu machen, die Muster des Lebens zu begreifen und also das Wesen der Welt. Dass sie auch auf das Parawissen­schaftlich­e setzte, um das Unerforsch­te zu erhellen, passt in die Zeit: Man denke nur an den Plan Thomas Edisons, per „Spirit Phone“mit den Toten zu telefonier­en. Auch Kandinsky war bekennende­r Esoteriker.

Hilma af Klint verfügte vor ihrem Tod, ihre Werke mögen 20 Jahre unter Verschluss gehalten werden: Sie schickte sie gewisserma­ßen mit einer Zeitkapsel in die Zukunft. Die Welt vergaß diese Künstlerin, und als in den 1980er Jahren erstmals ihre Arbeiten in Los Angeles gezeigt wurden, regierte in der Kunstkriti­k offensicht­lich noch die Breitbeini­gkeit: „Sie würde nie diese Aufmerksam­keit erhalten, wenn sie keine Frau gewesen wäre“, schrieb ein Kritiker, der ihre Werke als „bunte Diagramme“herabwürdi­gte. Es sei absurd, sie in die Nähe eines Kandinsky zu hängen.

Seither hat sich etwas getan, vor sieben Jahren begann die Neuentdeck­ung Hima af Klints, deren Höhepunkt wir nun erleben. Ihre Werke wurden im Hamburger Bahnhof in Berlin ausgestell­t, im MoMA kamen 600.000 Besucher, um sie zu betrachten, und im Film „Personal Shopper“hängen sie für ein Millionenp­ublikum sichtbar an den Wänden einer Wohnung und schmücken den Sperrbilds­chirm des Smartphone­s von Kristen Stewart. Poster werden gedruckt, Notizbüche­r mit Reprodukti­onen ihrer Werke eingebunde­n. „Die Kunstgesch­ichte muss umgeschrie­ben werden“, forderte Julia Voss in der FAZ. Für sie ist Hilma af Klint die „bedeutends­te Wiederentd­eckung der modernen Kunstgesch­ichte“.

Tatsächlic­h ist es großartig, einem Werk zu begegnen, das noch nicht notariell beglaubigt und umfassend ausgedeute­t ist. Man betrachtet dieses Werk sozusagen mit frischem Blick, ohne das Ehrfurchts­gebot, das über vielen Ausstellun­gen von Werken der Moderne liegt. Die Erfindung der Abstraktio­n ist nun jedenfalls kein männliches Projekt mehr.

Eine Frau war zuerst da.

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FOTOS: LINKS: STIFTELSEN HILMA AF KLINTS VERK, FOTOGRAFIE­RT VON ALBIN DAHLSTRÖM, MODERNA MUSEET, STOCKHOLM, RECHTS: STIFTELSEN HILMA AF KLINTS VERK FOTO: ALBIN DAHLSTRÖM Das linke Bild zeigt Hilma af Klint in ihrem Atelier (ca. 1895). Rechts ist ihre Arbeit „Primodival Chaos, no. 16“(1906/07) zu sehen.

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