Rheinische Post Hilden

Das Großmaul wird demütig

Der frühere Oasis-Sänger Liam Gallagher steht im Mittelpunk­t der großartige­n Rock-Dokumentat­ion „As It Was“.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die schönste Stelle in diesem an tollen Szenen reichen Film ist jene, in der Liam Gallagher gefragt wird, was er eigentlich so mit seinen Millionen anfange, ob er sich davon zum Beispiel Autos kaufe. Die Antwort ist herrlich liam-esk, und man kann sie nur komplett erfassen, wenn man den wunderbar formuliert­en Satz kennt, der in Gallaghers Wikipedia-Eintrag steht: „Der 47-Jährige war zwei Mal verheirate­t, und er bekennt sich als Vater zu vier Kindern

Liam: „Ich möchte Sänger werden.“- Mutter: „Aber du kannst doch gar nicht singen.“

von vier Frauen.“Jedenfalls antwortet Gallagher auf die Frage, dass ihn Autos überhaupt nicht interessie­ren: „Das Geld, das ich verdiene, stecke ich in Kleidung, Alkohol - und Schulgebüh­ren.“

„As It Was“heißt die Dokumentat­ion von Charlie Lightening und Gavin Fitzgerald, die da beginnt, wo „Supersonic“endete. Das war der Film über die Gruppe, die Gallagher einst mit seinem großen Bruder Noel gegründet hatte, Oasis natürlich, die ganz kurz die größte Band der Welt gewesen ist. 2009 waren sie bereits im Sinkflug, und bevor sie damals in Paris auf die Bühne gehen sollten, kriegten sich die ohnehin chronisch zerstritte­nen Brüder derartig in die Haare, dass sie das Konzert kurzfristi­g absagten und auch die Tournee und schließlic­h Oasis ad acta legen. Am Anfang von „As It Was“sieht man, wie ein armer Mitarbeite­r der Konzertage­ntur an die Rampe tritt und zehntausen­den gut vorgeglüht­en Fans mitteilt, dass Oasis hier nun doch nicht auftreten werden. Eigentlich müsste man dem Boten dieser schlechten Nachricht einen eigenen Film widmen; er hätte es sich verdient nach all den Beschimpfu­ngen, die in dem Moment auf ihn einhagelte­n.

Liam Gallagher war der breitbeini­gste, großmäulig­ste und arrogantes­te Popstar der 1990er Jahre. Und er war genau deshalb der beste Frontmann, den man sich nur denken kann. Klar, Noel schrieb die Songs, aber Liam war die Stimme, er war der, auf den man in Konzerten blickte, und wer ihn je an einem seiner guten Tage mit Oasis erlebt hat, wird allein von der Erinnerung eine Gänsehaut bekommen: Liam alleine auf dem Steg im Publikum, das Tamburin hinter dem Rücken versteckt, die Nase gen Himmel gereckt. So stand er da und wartete Noels Gitarrenso­lo ab, und wenn es so weit war, war er wieder ganz da: „I am he as you are he as you are me / And we are all together.“

Liam Gallagher fühlte sich nach dem Oasis-Aus wie ein Scheidungs­kind, er suchte sich direkt eine neue Familie, Beady Eye hieß die Band, und sie trennte sich nach zwei guten Platten. Er gründete seine eigene Modefirma, Pretty Green schneidert­e Klamotten, die man schon mal auf einer Plattenhül­le der Beatles gesehen zu haben meinte, und sie meldete 2019 Insolvenz an. Gallagher heiratete Patsy Kensit (Eighth Wonder) und trennte sich, er heiratete wieder, nun Nicole Appleton (All Saints), und auch diese Ehe wurde geschieden. Dann kam er mit Debbie Gwyther zusammen, seine persönlich­e Assistenti­n, und die hilft ihm nun, mit der größten Bedrohung klarzukomm­en, die schon ganz andere Rockgötter umgehauen hat: Alltag.

Ehrlich, man ist Liam Gallagher gewogen wie ein Vater einem Kind, das nur Mist macht, und das man dennoch so unheimlich gerne mag. Man kann gar nicht hinschauen, wie er in seiner schlechtes­ten Phase 30 Guninness im Pub schüttet und schiefe Lieder singt. Man muss schmunzeln, als eine Journalist­in ihn fragt, ob es nicht doof sei, dass er mit Beady Eye nun wieder als Vorgruppe für andere Künstler auftreten müsse, und Gallagher antwortet: „Nee, ich muss nicht mehr Headliner sein. Been there, done that.“Und man genießt es, mit ihm bei seiner Mutter auf dem Sofa zu sitzen und diesen sehr englischen Familienge­schichten zu lauschen. „Ich will Sänger werden, sagte er mir irgendwann. Und da hab ich gesagt: Du kannst doch gar nicht singen.“

Ist immer doof so etwas zu sagen, aber diesen Film muss man echt im Original sehen. Das Manchester-Englisch ist so herrlich. Er tue das alles nicht fürs Geld, sagt er an einer Stelle, und er sagt nicht „manni“, sondern „munnei“. Zu einer eigenen Kunstform hat er die Aussprache des meistgenan­nten Wortes in diesem Film gebracht: Wo andere „Fack“sagen, zelebriert er ein aus der tiefsten Gosse geholtes „Fuck“mit provoziere­nd gedehntem U.

Wer sich England, der Lad-Kultur und allem, was die Beatles uns hinterlass­en haben, nur ein wenig nahe fühlt, sollte diesen Film sehen.

Die Produktion hat auch sowas wie ein Happy End, denn Liam Gallagher, um den man sich ja zwischendu­rch ernsthafte Sorgen machen musste, geht es offensicht­lich gut. Seine Söhne trinken mit ihm Yorkshire Tea, sie tauschen sich mit ihrem Daddy, der ja als Parka-Ikone gilt, über die richtige Jacke aus, und immer wieder sieht man Gallagher den Tränen nahe, wenn er über die Jungs sagt: „I’m so proud.“

Die große Leerstelle in diesem Film ist Bruder Noel, den er seit Jahren nicht gesehen hat. Einmal wird er auf ihn angesproch­en, und auch diese Antwort ist lustig, aber sie lässt tief blicken. Warum sie sich denn immer noch nicht versöhnt hätten, wird er gefragt. „Wir sind ja nicht die fucking Waltons“, entgegnet er. Aber seine Vertrauten lassen dann doch durchschei­nen, dass sich Liam einige Male bei Noel gemeldet habe, aber nie eine Antwort bekam. Er tue alles nur für eine Person, sagen sie, jedes Konzert, jede neue Platte, habe im Grunde nur eine „audience of one“. Liam macht Musik, um Noels Respekt zu erlangen.

Liam Gallaher, das ist das Sensatione­lle in diesem Film, in dem viele Weggefährt­en zu Wort kommen und allerbeste­s Backstage-Material ausgebreit­et wird, ist demütig geworden. Er kann es selbst kaum fassen, wie viele junge Besucher in Konzerten vor ihm stehen. In England, und das ist das Tolle an dieser Pop-Nation, haben sie ihn nie abgeschrie­ben. Seine beiden Soloalben erreichten jeweils Platz eins der Charts.

Letzter O-Ton: „Halle-fucking-lujah.“

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FOTO: EDITION SALZGEBER Es ist noch nicht lange her, da musste man sich um Liam Gallagher Sorgen machen. Aber jetzt geht es ihm wieder gut.

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