Welche R-Zahl darf‘s denn sein?
Die Reproduktionszahl des Coronavirus lag in den vergangenen Tagen wieder bei einem Wert über 1. Das Robert-KochInstitut hat sich daher erneut an die Öffentlichkeit gewandt – und eine weitere, bereinigte Kennzahl angekündigt.
DÜSSELDORF Wir alle erinnern uns noch an die kleinen, aber feinen Rechenkünste von Bundeskanzlerin Angela Merkel Mitte April. Im Rahmen der Bundespressekonferenz ging es um die Reproduktionszahl, die besagt, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Liegt der Wert über 1, haben wir ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen, liegt er genau bei 1, stagnieren die Zahlen, und ist er kleiner als 1, geht die Ausbreitung des Virus zurück, weil dann statistisch betrachtet ein Infizierter weniger als einen Menschen ansteckt. Merkel betonte damals: „Wenn wir 1,2 haben, also jeder steckt 20 Prozent mehr an, also von fünf Menschen steckt einer zwei an und vier einen, dann kommen wir im Juli schon an die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems.“
Die Reproduktionszahl lag lag zu diesem Zeitpunkt bei 1. Sie sank sogar weiter, nämlich jüngst auf 0,75, nur um dann jetzt wieder bei etwas über 1 zu liegen. Und über 1 ist per se schlecht. Die Reproduktionszahl kann jedoch nie allein betrachtet werden, sie braucht eine Bezugsgröße. Und das ist die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Ein Beispiel: Läge die R-Zahl bei 1 und die Zahl der täglichen Neuinfektionen bei 10, würden sich morgen wieder genau 10 Menschen anstecken. Hätten sich aber zuletzt 100.000 Menschen neu angesteckt, würden sich bei R=1 auch morgen 100.000 infizieren. Die Auswirkungen wären also viel gravierender.
Merkels damalige Rechnung war insofern richtig. Bei einer R-Zahl von 1,2 und der zu dieser Zeit gemeldeten Neuninfektionen wäre das Gesundheitssystem voraussichtlich im Juli überfordert, weil es zu viele Patienten gegeben hätte. Die Zahl der Neuinfektionen sank aber seitdem kontinuierlich und nähert sich nun einem Plateau an, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) am Dienstag in einer Pressekonferenz mitteilte.
Aber wie erklärt sich ein leicht steigender R-Wert mit einer sinkenden Zahl der Neuinfektionen? Das RKI macht dafür zum Beispiel die jüngsten Ausbrüche in Fleischbetrieben verantwortlich. Gerade weil die Zahl der Neuerkrankten sinke, beeinflussten einzelne Ausbrüche die R-Zahl viel stärker als vorher, sagte RKI-Vizepräsident Lars
Schaade. Solange die R-Zahl einige Tage um 1 schwanke, sei das noch nicht bedenklich, betonte Schaade und brachte zugleich eine weitere Kennziffer ins Spiel: die stabile Reproduktionszahl.
An diesem Punkt lohnt es sich vor Augen zu führen, dass die R-Zahl eine statistische Schätzung ist, die leichten Ungenauigkeiten obliegt. Sie wird aus der Zahl der täglichen Neuinfektionen ermittelt. Allerdings verwendet das RKI seit einigen Wochen nicht mehr die nackten Zahlen, die wir alle regelmäßig in diversen Grafiken sehen. Denn auch wenn die Daten täglich frisch reinpurzeln, sie bilden einen Stand ab, der einige Tage in der Vergangenheit liegt. Die Gründe sind der Meldeverzug zwischen den Behörden und die Inkubationszeit des Virus.
Um das zu verhindern, benutzt das RKI das sogenannte Nowcasting. Der Meldeverzug wird hierbei mit einer mathematischen Modellierung herausgerechnet und die aktuelle Zahl der Neuinfektionen geschätzt. Das RKI ermittelt also die Zahl, die aufgrund des Meldeverzugs
eigentlich erst in einigen Tagen in den Systemen landet. Um die R-Zahl anhand der modellierten Werte zu schätzen, vergleicht das RKI zwei Zeiträume von je vier Tagen zwischen denen auch vier Tage liegen. Allerdings würden die letzten drei Tage aufgrund zu starker Schwankungen nicht in die Rechnung mit einbezogen, sagte Schaade am Dienstag. Er rechnete vor: Die R-Zahl von Montag (1,07) ergebe sich aus den Daten vom 30. April bis 3. Mai sowie vom 4. Mai bis 7. Mai.
Diesen Vier-Tages-Rhythmus benutzt das RKI erst seit dem 29. April. Zuvor war es ein Drei-Tages-Intervall. Im damaligen Lagebericht des Instituts hieß es dazu, dass die Modellierung mit vier Tagen „den Verlauf noch etwas glättet und gleichzeitig die Berechnung des Punktschätzers für den R-Wert erleichtert“. Für einen bestimmten Tag ergebe sich der R-Wert jetzt als einfacher Quotient der geschätzten Zahl von Neuerkrankungen für diesen Tag geteilt durch die Zahl von Neuerkrankungen vier Tage davor.
Das RKI hat die Parameter für die Nowcast-Modellierung zuletzt immer wieder angepasst, um genauere Zahlen zu erhalten. Das sorgte mitunter für Verwirrung und war vom Institut auch nicht immer eindeutig und zeitnah kommuniziert worden. Auch war vielen nicht klar, warum das RKI erst seit Ende März die aktuellen Werte mithilfe des Nowcastings schätzte. Die Begründung des Instituts: Erst seitdem sei der maximale Meldeverzug der Virusausbreitung deutlich gewesen.
Die stabile Reproduktionszahl setzt sich nun aus dem Nowcasting und einer weiteren Modellierung zusammen, bei der die Schwankungen durch einzelne Virusausbrüche herausgerechnet werden. Der Wert wird also geglättet. „In der vergangenen Woche lag dieser stabile R-Wert an keinem Tag über 1“, sagte Schaade. Die normale R-Zahl könne auch künftig um den Wert von 1 liegen. Entscheidend sei, dass der Wert nicht über einen längeren Zeitraum über 1 liege. Auf die Frage, warum das RKI die stabile Reproduktionszahl nicht schon vorher in den regelmäßigen Berichten ausgewiesen hat, antwortete eine Institutssprecherin: „Natürlich sind vorab intern Berechnungen gemacht worden, um die Methode zu prüfen, bevor die Zahl selbst veröffentlicht werden kann.“