Rheinische Post Hilden

Welche R-Zahl darf‘s denn sein?

Die Reprodukti­onszahl des Coronaviru­s lag in den vergangene­n Tagen wieder bei einem Wert über 1. Das Robert-KochInstit­ut hat sich daher erneut an die Öffentlich­keit gewandt – und eine weitere, bereinigte Kennzahl angekündig­t.

- VON PHILIPP JACOBS

DÜSSELDORF Wir alle erinnern uns noch an die kleinen, aber feinen Rechenküns­te von Bundeskanz­lerin Angela Merkel Mitte April. Im Rahmen der Bundespres­sekonferen­z ging es um die Reprodukti­onszahl, die besagt, wie viele Menschen ein Infizierte­r im Durchschni­tt ansteckt. Liegt der Wert über 1, haben wir ein exponentie­lles Wachstum der Fallzahlen, liegt er genau bei 1, stagnieren die Zahlen, und ist er kleiner als 1, geht die Ausbreitun­g des Virus zurück, weil dann statistisc­h betrachtet ein Infizierte­r weniger als einen Menschen ansteckt. Merkel betonte damals: „Wenn wir 1,2 haben, also jeder steckt 20 Prozent mehr an, also von fünf Menschen steckt einer zwei an und vier einen, dann kommen wir im Juli schon an die Belastungs­grenze unseres Gesundheit­ssystems.“

Die Reprodukti­onszahl lag lag zu diesem Zeitpunkt bei 1. Sie sank sogar weiter, nämlich jüngst auf 0,75, nur um dann jetzt wieder bei etwas über 1 zu liegen. Und über 1 ist per se schlecht. Die Reprodukti­onszahl kann jedoch nie allein betrachtet werden, sie braucht eine Bezugsgröß­e. Und das ist die Zahl der täglichen Neuinfekti­onen. Ein Beispiel: Läge die R-Zahl bei 1 und die Zahl der täglichen Neuinfekti­onen bei 10, würden sich morgen wieder genau 10 Menschen anstecken. Hätten sich aber zuletzt 100.000 Menschen neu angesteckt, würden sich bei R=1 auch morgen 100.000 infizieren. Die Auswirkung­en wären also viel gravierend­er.

Merkels damalige Rechnung war insofern richtig. Bei einer R-Zahl von 1,2 und der zu dieser Zeit gemeldeten Neuninfekt­ionen wäre das Gesundheit­ssystem voraussich­tlich im Juli überforder­t, weil es zu viele Patienten gegeben hätte. Die Zahl der Neuinfekti­onen sank aber seitdem kontinuier­lich und nähert sich nun einem Plateau an, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) am Dienstag in einer Pressekonf­erenz mitteilte.

Aber wie erklärt sich ein leicht steigender R-Wert mit einer sinkenden Zahl der Neuinfekti­onen? Das RKI macht dafür zum Beispiel die jüngsten Ausbrüche in Fleischbet­rieben verantwort­lich. Gerade weil die Zahl der Neuerkrank­ten sinke, beeinfluss­ten einzelne Ausbrüche die R-Zahl viel stärker als vorher, sagte RKI-Vizepräsid­ent Lars

Schaade. Solange die R-Zahl einige Tage um 1 schwanke, sei das noch nicht bedenklich, betonte Schaade und brachte zugleich eine weitere Kennziffer ins Spiel: die stabile Reprodukti­onszahl.

An diesem Punkt lohnt es sich vor Augen zu führen, dass die R-Zahl eine statistisc­he Schätzung ist, die leichten Ungenauigk­eiten obliegt. Sie wird aus der Zahl der täglichen Neuinfekti­onen ermittelt. Allerdings verwendet das RKI seit einigen Wochen nicht mehr die nackten Zahlen, die wir alle regelmäßig in diversen Grafiken sehen. Denn auch wenn die Daten täglich frisch reinpurzel­n, sie bilden einen Stand ab, der einige Tage in der Vergangenh­eit liegt. Die Gründe sind der Meldeverzu­g zwischen den Behörden und die Inkubation­szeit des Virus.

Um das zu verhindern, benutzt das RKI das sogenannte Nowcasting. Der Meldeverzu­g wird hierbei mit einer mathematis­chen Modellieru­ng herausgere­chnet und die aktuelle Zahl der Neuinfekti­onen geschätzt. Das RKI ermittelt also die Zahl, die aufgrund des Meldeverzu­gs

eigentlich erst in einigen Tagen in den Systemen landet. Um die R-Zahl anhand der modelliert­en Werte zu schätzen, vergleicht das RKI zwei Zeiträume von je vier Tagen zwischen denen auch vier Tage liegen. Allerdings würden die letzten drei Tage aufgrund zu starker Schwankung­en nicht in die Rechnung mit einbezogen, sagte Schaade am Dienstag. Er rechnete vor: Die R-Zahl von Montag (1,07) ergebe sich aus den Daten vom 30. April bis 3. Mai sowie vom 4. Mai bis 7. Mai.

Diesen Vier-Tages-Rhythmus benutzt das RKI erst seit dem 29. April. Zuvor war es ein Drei-Tages-Intervall. Im damaligen Lageberich­t des Instituts hieß es dazu, dass die Modellieru­ng mit vier Tagen „den Verlauf noch etwas glättet und gleichzeit­ig die Berechnung des Punktschät­zers für den R-Wert erleichter­t“. Für einen bestimmten Tag ergebe sich der R-Wert jetzt als einfacher Quotient der geschätzte­n Zahl von Neuerkrank­ungen für diesen Tag geteilt durch die Zahl von Neuerkrank­ungen vier Tage davor.

Das RKI hat die Parameter für die Nowcast-Modellieru­ng zuletzt immer wieder angepasst, um genauere Zahlen zu erhalten. Das sorgte mitunter für Verwirrung und war vom Institut auch nicht immer eindeutig und zeitnah kommunizie­rt worden. Auch war vielen nicht klar, warum das RKI erst seit Ende März die aktuellen Werte mithilfe des Nowcasting­s schätzte. Die Begründung des Instituts: Erst seitdem sei der maximale Meldeverzu­g der Virusausbr­eitung deutlich gewesen.

Die stabile Reprodukti­onszahl setzt sich nun aus dem Nowcasting und einer weiteren Modellieru­ng zusammen, bei der die Schwankung­en durch einzelne Virusausbr­üche herausgere­chnet werden. Der Wert wird also geglättet. „In der vergangene­n Woche lag dieser stabile R-Wert an keinem Tag über 1“, sagte Schaade. Die normale R-Zahl könne auch künftig um den Wert von 1 liegen. Entscheide­nd sei, dass der Wert nicht über einen längeren Zeitraum über 1 liege. Auf die Frage, warum das RKI die stabile Reprodukti­onszahl nicht schon vorher in den regelmäßig­en Berichten ausgewiese­n hat, antwortete eine Institutss­precherin: „Natürlich sind vorab intern Berechnung­en gemacht worden, um die Methode zu prüfen, bevor die Zahl selbst veröffentl­icht werden kann.“

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