Rheinische Post Hilden

Eine virologisc­he Kardinaltu­gend

Je mehr Verbote fallen, desto wichtiger wird unsere Fähigkeit zur Mäßigung.

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Alexander Van der Bellen und Dominic Cummings haben eigentlich nicht viel gemeinsam. Der eine ist österreich­ischer Bundespräs­ident, der andere Chefberate­r der britischen Regierung und überzeugte­r Brexiteer. Jeder für sich und damit dann doch gemeinsam haben sie allerdings Aufmerksam­keit erregt, weil sie in Konflikt mit den Corona-Auflagen ihrer Länder geraten sind. Van der Bellen wurde nach der obligatori­schen Schlusszei­t in einem Restaurant angetroffe­n, Cummings fuhr während des Lockdowns quer durch England. Bei beiden ist nicht ganz klar, ob sie wirklich gegen die Buchstaben der Regelungen verstoßen haben; deren

Geist aber sind sie sicher nicht gerecht geworden. Cummings gab sich trotzig, Van der Bellen reuig. Der eher linke Präsident wird nun von den Rechtspopu­listen der FPÖ angegangen, während der populistis­che Berater bei eher Linken in Britannien in der Kritik steht. Eine nette Verschränk­ung, die aber nur auf die Universali­tät des Problems dahinter hinweist: Vermutlich haben wir alle schon gegen unsere Corona-Auflagen verstoßen. Ohne Maske ins Geschäft, mit Maske ans Steuer, zu wenig Abstand, Gruppe zu groß – das geht schnell und geschieht, darf man angesichts der breiten Zustimmung zu den Einschränk­ungen unterstell­en, oft unwillentl­ich.

Je mehr Verbote fallen und durch Gebote oder Empfehlung­en ersetzt werden, desto größer aber wird die Verantwort­ung des und der Einzelnen. Selbstbesc­hränkung, altertümli­cher: Mäßigung, gehört nicht nur zu Ciceros Kardinaltu­genden, sie wird auch zur virologisc­h relevanten Verhaltens­kategorie. Ihr zu folgen, wird bei nachlassen­dem äußeren Druck und wachsender kollektive­r Ungeduld immer schwierige­r. Aber es bleibt ja richtig: Nicht alles, was man tun darf, sollte man auch tun. Die Herren Van der Bellen und Cummings lassen grüßen.

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