Romeo und Julia für die Gegenwart
Ein Film übers Erwachsenwerden mit ganz eigenem Ton: „Milla meets Moses“erzählt eine besondere Liebesgeschichte.
So hatten sich die Eltern ihren zukünftigen Schwiegersohn ganz bestimmt nicht vorgestellt: drogensüchtig, obdachlos, Tätowierung im Gesicht und dann noch acht Jahre älter als die 15-jährige Tochter. Aber Milla (Eliza Scanlen) gefällt dieser Moses ( Toby Wallace), der sie auf dem Bahnsteig beinahe umgerannt hätte, ihr dann erst sein stinkendes T-Shirt gegen das Nasenbluten ins Gesicht presst und sie dann um ein paar Dollar anschnorrt. Sie ist mit ihm losgezogen und hat sich von Moses mit einer Pudelfellschere das schöne rote Haar abschneiden lassen. Und nun sitzt sie mit ihrer Rattenfrisur und neuem Freund am Esstisch.
Die Eltern haben keine Ahnung, wie sie auf diese Situation reagieren sollen. Schließlich hat Milla Krebs. Keiner weiß, wie lange sie noch zu leben hat. Um sich zu entspannen, wirft Mutter Anna (Essie Davis) noch ein paar von den blauen Pillen ein. Die verschreibt ihr praktischerweise ihr Mann Henry (Ben Mendelsohn), der als Psychiater die manisch-depressiven Schübe seiner Ehefrau auszubalancieren versucht. Henry verfügt über professionelle Geduld, aber auch er ringt sichtlich um die väterliche Fassung und ist erleichtert, als Moses nach dem Essen mit dem versprochenen Geldschein verschwindet.
Eine Romeo-und-Julia-Geschichte der ganz anderen Art erzählt die australische Regisseurin Shannon Murphy in ihrem hinreißenden Regiedebüt „Milla meets Moses“. Denn dieser Moses kommt natürlich wieder. Zunächst als Einbrecher, der es auf die umfangreichen Medikamentenvorräte abgesehen hat und Anna mit einer Grillgabel bedroht. Später lädt Henry den Herumtreiber ein, bei ihnen zu wohnen. Denn er sieht, dass der Junge Milla gut tut, und verspricht im Gegenzug, Moses mit verschreibungspflichtigen Medikamenten zu versorgen. Milla
hat durch die Chemo längst alle Haare verloren. Als eine Mitschülerin sich mit einem zuckersüßen Lächeln ihre Perücke ausleihen will – nur um mal im Spiegel zu sehen, wie es an ihr aussieht – wird Milla der Unterschied zwischen ihr und den anderen Teenagern, die das Leben noch vor sich haben, schmerzhaft bewusst. Aber mit Moses spielt all das keine Rolle. An seiner Seite blüht sie auf, hören ihre Augen nicht auf zu strahlen, fühlt sie sich so lebendig wie nie zuvor in der wenigen Zeit, die ihr noch bleibt. Und auch der unzuverlässige Drogendealer entwickelt zunehmend mehr Empathie und Verantwortungsgefühl für die kranke Freundin.
Auf den ersten Blick reiht sich „Milla meets Moses“ein in den Strom von Young-Adult-Dramen, in denen sterbenskranke Teenager ihre erste große Liebe finden – ein romantisches Erzählmuster, das sich mittlerweile zu einem eigenen Genre entwickelt hat. Den Anfang machte die Verfilmung von Julian Greens enorm erfolgreichem Jugendroman „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“(2015), der mit seiner Sensibilität und dem profunden
Wissen um die Folgen der Krankheit auf eine jugendliche Seele immer noch als Goldstandard gilt. In dessen Fahrwasser folgte die US-Independent-Produktion „Ich, der Earl und das Mädchen“(2015). Aber auch im deutschen Film wurde das Motiv bereits 2013 in Marc Rothemunds Literaturverfilmung „Heute bin ich blond“(2013) und zuletzt mit „Dem Horizont so nah“(2019) im bedingungslosen Schnulzenformat aufgegriffen.
In „Milla meets Moses“findet Murphy mit erstaunlich sicherem filmischen Gespür ihren eigenen
Erzählton und baut die morbide Coming-of-Age-Geschichte zu einem tragikomischen Familienporträt aus. In feinster Dysfunktionalität erstrahlt die Vorstadtfamilie, deren emotionaler Ausnahmezustand durch das Auftauchen von Moses (nomen est omen) in neue Dimensionen katapultiert wird. Das erinnert zuweilen an Sam Mendes’ Suburb-Klassiker „American Beauty“(1999).
Murphy verhandelt die kollabierenden Gemütszustände ihrer Figuren mit einem wunderbar ungepolsterten Humor, allerdings ganz ohne
Zynismus. Zärtlich schaut sie auf die existentiell überforderten Eltern, die jeden Tag neu um ihre Fassung ringen und immer wieder dem eigenen Versagen gegenüberstehen. Voll und ganz lässt sich die Regisseurin auf Millas romantisches Erwachen ein, die ihre Welt mit neuen Augen sehen und an der Seite von Moses die ungeöffneten Türen des Lebens auftreten will.
Die fabelhafte Eliza Scanlen, die kürzlich als jüngste March-Schwester in „Little Women“und der HBO/ Sky-Serie „Sharp Objects“zu sehen war, wird hier zum strahlenden Epizentrum des Films. In ihren Blicken fließen Euphorie und Melancholie der sterbenskrank Verliebten unmerklich ineinander. Dazu entwirft Murphy eine frische Filmsprache. Die visuelle Gestaltung versucht sich dem schnell wechselnden Pulsschlag seiner Hauptfigur anpassen zu wollen. Das gleißende Licht des australischen Sommers, die explodierenden Farben auf einer Party, Texteinblendungen und ein abwechslungsreicher Soundtrack werden ausdrucksstark eingesetzt, um die wild widerstrebenden Gefühle der Figuren zum Leuchten zu bringen.
Milla meets Moses,
USA 2020 – Regie: Shannon Murphy, mit Eliza Scanlen, Essie Davis, Ben Mendelsohn, 118 Min.