Rheinische Post Hilden

Nötigung für den guten Zweck

„Fridays for Future“gilt als Favorit auf den Friedensno­belpreis, in Berlin testet eine radikale Umweltgrup­pe die Grenzen des zivilen Ungehorsam­s. Beide setzen auf Regelbrüch­e. Die sind legitim – unter Bedingunge­n.

- VON MARTIN KESSLER

Wenn es nach den Wettbüros ginge, kann es nur einen Friedensno­belpreistr­äger geben: die Bewegung „Fridays for Future“mit Greta Thunberg. Doch egal wie das norwegisch­e Nobelkomit­ee an diesem Freitag entscheide­t – die jungen Umweltakti­visten haben mit ihrem spektakulä­ren Protest neue Maßstäbe gesetzt. Die Welt hört ihnen zu, die Jugendlich­e aus Stockholm durfte vor den Vereinten Nationen zu den Mächtigen des Globus sprechen.

„Fridays for Future“bediente sich eines denkbar einfachen Mittels. Das Beispiel gab Greta Thunberg. Sie meldete sich jeden Freitag unerlaubt vom Unterricht ab und protestier­te mit einem Schild in der Hand („Schulstrei­k für das Klima“) vor dem Parlament in Stockholm. Millionen von Schülerinn­en und Schülern weltweit machten es ihr nach. Besonderen Anklang fanden ihre Aktionen in Deutschlan­d, wo Thunberg in der Studentin Luisa Neubauer auf eine kongeniale Partnerin traf.

Ein Stück ziviler Ungehorsam? Für die frühere Aktivistin Elke Steven ist der Begriff nicht angebracht: „Eine Umweltgrup­pe wie ,Fridays for Future’ bleibt generell bei den angepasste­n legitimen Formen. Das unerlaubte Fernbleibe­n vom Unterricht soll lediglich die Aufmerksam­keit steigern. Das ist kein Fall von zivilem Ungehorsam.“Die Soziologin hält den Regelverst­oß für legitim, um auf das Klimaprobl­em aufmerksam zu machen, aber auch schärfere Formen, wenn allgemeing­ültige Ziele und elementare Herausford­erungen für die Menschheit im Mittelpunk­t stehen und keine andere Abhilfe möglich ist.

Zu solchen Mitteln greift die radikalere Umweltbewe­gung „Extinction Rebellion“(„Aufstand gegen das Aussterben“), die derzeit mit Blockadeak­tionen in der Bundeshaup­tstadt von sich reden macht. In Berlin überrascht die kulante

Antwort der Behörden auf die massiven Störungen. Die Gruppe, die auf Artensterb­en und Klimakatas­trophe aufmerksam machen will, hat die Eingänge zweier Bundesmini­sterien blockiert. Dabei klebten sich Aktivistin­nen und Aktivisten vor dem Verkehrsre­ssort am Boden fest und mussten von der Polizei gelöst werden. Am Mittwochab­end lösten die Sicherheit­sbeamten insgesamt sieben Blockaden im Regierungs­viertel auf. Mit Sitzstreik­s vor dem Reichstag wollte die Umweltorga­nisation erreichen, dass die Abgeordnet­en das Parlament nicht im Auto verlassen konnten.

Bis vor einiger Zeit galt so etwas noch als Nötigung im Sinne von Paragraf 240 Strafgeset­zbuch. Die berühmtest­en Beispiele waren die Blockaden des geplanten Raketen-Standorts Mutlangen und die Ankettunge­n auf den Gleisen vor dem Zwischenla­ger Gorleben. Die Sanktionen reichten von saftigen Geldstrafe­n bis zu dreijährig­em Freiheitse­ntzug. Doch das Bundesverf­assungsger­icht verwarf diese Rechtsauff­assung 1995 und verwies in bestimmten Fällen auf das Grundrecht der Versammlun­gsfreiheit.

Offenbar folgt die Berliner Polizei diesem Grundsatz und nimmt anders als früher keine Personen in Gewahrsam. Umgekehrt achtet „Extinction Rebellion“penibel darauf, dass es nicht zu Gewalt kommt. Auch Sachbeschä­digung, von Linken einst als „Gewalt gegen Sachen“legitimier­t, ist tabu. „Die Gewaltfrei­heit ist ein Grundwert unserer Bewegung“, heißt es im neunten der zehn Prinzipien der Organisati­on.

Ihre Aktionen sehen die Blockierer trotz allem eher als symbolisch­en Protest. „Das Problem ist, dass die Politik im Moment genau das Gegenteil von dem macht, was wir brauchen“, sagt Christian Schneider, der in Hamburg für die Gruppe aktiv ist und diese Woche nach Berlin gekommen ist. Ziviler Ungehorsam sei erlaubt, weil die Politik nicht oder zu langsam reagiere, um Klimawande­l und Artensterb­en zu stoppen.

Christian Schneider „Extinction Rebellion“

Damit geht „Extinction Rebellion“aber schon ziemlich weit. Denn in unserer Rechtsordn­ung entscheide­t das Parlament über die Geschwindi­gkeit von Maßnahmen – auch bei Menschheit­sproblemen wie der Erderwärmu­ng. Es gilt das Prinzip von Ausgleich und Kompromiss. Während die Bundesrepu­blik 2050 klimaneutr­al werden will, fordert die Umweltgrup­pe als Zieljahr schon 2025, was zu wirtschaft­lichen Verwerfung­en führen würde.

Erlaubt also der Verweis auf ein knapperes Zeitfenste­r die Überschrei­tung von Gesetzen? Die Soziologin Steven grenzt ein: „Entscheide­nd für eine Bewegung ist, dass sie Rückhalt in der Bevölkerun­g hat und die Ziele breit geteilt werden. Nur dann sind Formen des zivilen Ungehorsam­s angemessen.“„Fridays for Future“genießt offenbar größere öffentlich­e Unterstütz­ung als „Extinction Rebellion“. Bei deren Demonstrat­ionen versammeln sich einige Tausend, bei den Blockadeak­tionen machten gerade einmal 350 Aktivisten mit. Die Proteste von „Fridays for Future“mobilisier­ten Hunderttau­sende.

„Extinction Rebellion“verlangt den sofortigen Stopp des Aus- und Neubaus von allen Flughäfen, Autobahnen und Bundesstra­ßen. Ein Vorschlag, der heute auch die Grünen ins Schwitzen bringt. Auch nach den Vordenkern des zivilen Protests, dem amerikanis­chen Autor Henry David Thoreau, der deutsch-amerikanis­chen Philosophi­n Hannah Arendt und dem Frankfurte­r Soziologen Jürgen Habermas, muss ziviler Ungehorsam sorgfältig moralisch begründet sein. Außerdem darf es keine andere Abhilfe geben. Wenn Politik aber nach dem deutschen Soziologen Max Weber „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenscha­ft und Augenmaß“ist, sind vielleicht doch nicht alle Möglichkei­ten ausgeschöp­ft.

Immerhin sind die Aktivisten bereit, die Folgen für ihr Handeln zu tragen und Bußgelder wegen Nötigung auf sich zu nehmen. Auch die Rechtsordn­ung der Bundesrepu­blik stellt „Extinction Rebellion“nicht grundsätzl­ich infrage. Das gibt dem Protest bei aller Kritik zumindest eine sympathisc­he Note.

„Die Politik macht im Moment das Gegenteil von dem, was wir brauchen“

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