100 Tage auf der Straße
Die Dauerproteste in Bulgarien bringen Premier Borissow nicht zu Fall, aber zeigen Wirkung.
BELGRAD/SOFIA Die 100. Jubiläumsdemo mobilisierte in Bulgariens Hauptstadt Sofia am Freitag noch einmal die Massen. Auch aus der Provinz seien viele Leute und aus Brüssel selbst ausländische Europaabgeordnete angereist, berichtete vor deren Beginn der Anwalt Emil Georgiew von der Juristeninitiative „Gerechtigkeit für alle“. Es würden zwar längst nicht mehr so viele Menschen an den täglichen Protestmärschen wie noch im Sommer teilnehmen: „Doch die Proteste haben Premier Bojko Borissow geschwächt – und Europas Öffentlichkeit für die Lage in Bulgarien sensibilisiert.“
Seit nunmehr 100 Tagen ziehen beim ärmsten EU-Mitglied manchmal zehntausende, manchmal auch nur einige Hundert Demonstranten gegen Vetternwirtschaft, Mafia-Machenschaften, Rechtlosigkeit und den Missbrauch von Steuer- und EU-Geldern über die Straßen. Den geforderten Abtritt des umstrittenen Regierungschefs vermochten die Dauerdemonstranten zwar nicht zu erzwingen. Doch ihr Aufstand gegen Bulgariens Schattenstaat hat den Chef der rechten Gerb-Partei international und innenpolitisch nachhaltig geschwächt: Die Wiederwahl von Borissow bei den für März 2021 terminierten Parlamentswahlen gilt als zunehmend zweifelhaft.
Es seien die Gelder der EU-Steuerzahler, die in Bulgarien die Korruption finanzierten, ärgert sich Anwalt Georgiew. Obwohl Borissow gerne auf seine guten Kontakte zu Bundeskanzlerin
Angela Merkel und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen verweist und er nach wie vor die Solidarität der christdemokratischen EVP genießt, finden die Klagen der Dauerdemonstranten von Sofia zunehmend auch in den westlichen EU-Metropolen Gehör.
Vergangene Woche verabschiedete das Europaparlament mit 358:277 Stimmen trotz des Widerstands der EVP-Fraktion eine Resolution, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ – und von Bulgariens verärgerter Regierung als schallende Ohrfeige empfunden wurde. Das Europaparlament bedauere die „erhebliche Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Grundrechte – einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz, der Gewaltenteilung, der Bekämpfung der Korruption und der Medienfreiheit in Bulgarien“, so die Resolution.
Die Resolution des Europaparlaments sei zwar rechtlich unverbindlich, aber „ihre politische Signalwirkung ist enorm“, sagt hingegen Anwalt Georgiew, der diese für eine „direkte Folge der Proteste“hält. Einerseits habe das Votum im Europaparlament „den Nerv der Machthaber“getroffen, andererseits die „Debatten in Bulgarien neu entfacht“. Borissow könne sich nun kaum mehr wie bisher darauf berufen, dass er international so hoch angesehen sei. Der Premier werde in die Parlamentswahl „sicher geschwächt“ziehen: „Und das wird sich auch im Wahlergebnis niederschlagen.“