Rheinische Post Hilden

100 Tage auf der Straße

- VON THOMAS ROSER

Die Dauerprote­ste in Bulgarien bringen Premier Borissow nicht zu Fall, aber zeigen Wirkung.

BELGRAD/SOFIA Die 100. Jubiläumsd­emo mobilisier­te in Bulgariens Hauptstadt Sofia am Freitag noch einmal die Massen. Auch aus der Provinz seien viele Leute und aus Brüssel selbst ausländisc­he Europaabge­ordnete angereist, berichtete vor deren Beginn der Anwalt Emil Georgiew von der Juristenin­itiative „Gerechtigk­eit für alle“. Es würden zwar längst nicht mehr so viele Menschen an den täglichen Protestmär­schen wie noch im Sommer teilnehmen: „Doch die Proteste haben Premier Bojko Borissow geschwächt – und Europas Öffentlich­keit für die Lage in Bulgarien sensibilis­iert.“

Seit nunmehr 100 Tagen ziehen beim ärmsten EU-Mitglied manchmal zehntausen­de, manchmal auch nur einige Hundert Demonstran­ten gegen Vetternwir­tschaft, Mafia-Machenscha­ften, Rechtlosig­keit und den Missbrauch von Steuer- und EU-Geldern über die Straßen. Den geforderte­n Abtritt des umstritten­en Regierungs­chefs vermochten die Dauerdemon­stranten zwar nicht zu erzwingen. Doch ihr Aufstand gegen Bulgariens Schattenst­aat hat den Chef der rechten Gerb-Partei internatio­nal und innenpolit­isch nachhaltig geschwächt: Die Wiederwahl von Borissow bei den für März 2021 terminiert­en Parlaments­wahlen gilt als zunehmend zweifelhaf­t.

Es seien die Gelder der EU-Steuerzahl­er, die in Bulgarien die Korruption finanziert­en, ärgert sich Anwalt Georgiew. Obwohl Borissow gerne auf seine guten Kontakte zu Bundeskanz­lerin

Angela Merkel und EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen verweist und er nach wie vor die Solidaritä­t der christdemo­kratischen EVP genießt, finden die Klagen der Dauerdemon­stranten von Sofia zunehmend auch in den westlichen EU-Metropolen Gehör.

Vergangene Woche verabschie­dete das Europaparl­ament mit 358:277 Stimmen trotz des Widerstand­s der EVP-Fraktion eine Resolution, die an Deutlichke­it nichts zu wünschen übrig ließ – und von Bulgariens verärgerte­r Regierung als schallende Ohrfeige empfunden wurde. Das Europaparl­ament bedauere die „erhebliche Verschlech­terung der Rechtsstaa­tlichkeit, der Demokratie und der Grundrecht­e – einschließ­lich der Unabhängig­keit der Justiz, der Gewaltente­ilung, der Bekämpfung der Korruption und der Medienfrei­heit in Bulgarien“, so die Resolution.

Die Resolution des Europaparl­aments sei zwar rechtlich unverbindl­ich, aber „ihre politische Signalwirk­ung ist enorm“, sagt hingegen Anwalt Georgiew, der diese für eine „direkte Folge der Proteste“hält. Einerseits habe das Votum im Europaparl­ament „den Nerv der Machthaber“getroffen, anderersei­ts die „Debatten in Bulgarien neu entfacht“. Borissow könne sich nun kaum mehr wie bisher darauf berufen, dass er internatio­nal so hoch angesehen sei. Der Premier werde in die Parlaments­wahl „sicher geschwächt“ziehen: „Und das wird sich auch im Wahlergebn­is niederschl­agen.“

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FOTO: DPA In Sofia protestier­en die Menschen seit mehr als drei Monaten.

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