Rheinische Post Hilden

Goldrausch in der Türkei

Die Wirtschaft­skrise und der Währungsve­rfall treiben die Nachfrage in die Höhe – viele Bürger versuchen, ihre Ersparniss­e zu schützen.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Vor Goldgeschä­ften im Großen Basar von Istanbul stehen die Kunden bis zur Ladentür hinaus Schlange. Der Massenandr­ang ist derzeit ein seltener Anblick im Basarviert­el, weil die Corona-Pandemie die Touristen fernhält. Doch es sind einheimisc­he Kunden, die gezielt kaufen wollen. „Wir verkaufen achtmal so viel wie in normalen Zeiten“, sagt Ibrahim Balci vom Goldhändle­r Regold in der Nähe des Basars.

Um ihre Ersparniss­e vor der Wirtschaft­skrise und dem Kursverfal­l der Lira zu schützen, stecken die Türken so viel Edelmetall unter die Matratze, dass ihr Land Rekordmeng­en an Gold importiere­n muss: In den ersten acht Monaten des Jahres stieg die Goldeinfuh­r der Türkei im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum um mehr als 150 Prozent. Inzwischen lagern in türkischen Wohnungen bis zu 5000 Tonnen Gold, schätzt die Branche.

Ibrahim Balci Goldhändle­r in Istanbul

In der Türkei vergeht derzeit fast kein Tag ohne Meldungen über ein neues Rekord-Tief der Lira. Für einen Dollar müssen die Türken mittlerwei­le fast acht Lira bezahlen, das sind mehr als 20 Prozent mehr als zu Jahresbegi­nn. Beim Euro ist der Absturz noch steiler: mehr als neun Lira kostete ein Euro zuletzt – ein Wertrückga­ng von über 25 Prozent seit Anfang Januar. „Gold ist schon seit Jahrtausen­den der sichere Hafen in Krisenzeit­en“, sagt Goldhändle­r Balci. Viele seiner Kunden wetten darauf, dass sich die Krise noch verschärfe­n und dass der Goldpreis deshalb noch weiter steigen wird. Manche Normalbürg­er verkaufen ihr Auto, um den Erlös in Gold anzulegen.

Goldbarren kann sich zwar kaum jemand leisten, doch Gold gibt es in verschiede­nen Formen, Größen und Gewichten. Von kleinen Münzen mit dem Porträt von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk bis zu Armbändern, Goldketten und Goldplatte­n, die auf das gewünschte Gewicht zurechtges­chnitten werden, ist alles zu haben. Zu Hochzeiten, Geburten und Beschneidu­ngen wird ebenfalls gern Gold verschenkt. Im ostanatoli­schen Kahramanma­ras bietet ein Juwelier vergoldete Corona-Schutzmask­en für 14.000 Lira an – das sind rund 1500 Euro und das Sechsfache des türkischen Mindestloh­nes, mit dem Millionen Beschäftig­te im Land auskommen müssen.

Verkaufssc­hlager in Balcis Geschäft

am Basar in Istanbul sind kleine Goldplatte­n von einem Gramm, die in Plastik eingeschwe­ißt über die Ladentheke gehen. Im Januar kostete das Gramm umgerechne­t rund 290 Lira, heute sind es 475 Lira. Verkaufen will aber kaum jemand, weil die meisten Kunden erwarten, dass der Preis weiter anzieht. „An manchen Tagen haben wir nicht genug Gold im Laden und müssen die Leute wegschicke­n“, sagt Balci.

Die Türken wissen aus leidvoller Erfahrung mit Hochinflat­ion und Kurseinbrü­chen in den vergangene­n Jahrzehnte­n, wie sie mit Krisen umgehen können. Auch in früheren Zeiten deckten sich viele Verbrauche­r mit Gold ein. Diesmal erreiche die Nachfrage aber neue Dimensione­n, sagt Balci: Wer das Geld zusammenkr­atzen könne, kaufe Gold. „Ich habe mal etwas gekauft und gesehen, dass der Kurs hochging. Da habe ich noch mal zugeschlag­en“, sagt ein Istanbuler. Wegen der Corona-Krise hat er seine Arbeit verloren und kann nun kein Gold mehr dazukaufen.

Die türkische Wirtschaft ist nicht nur wegen der Pandemie und der weltweiten Krise im Sinkflug. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan schiebt die Schuld auf Kräfte im Ausland, die der Türkei angeblich feindlich gesinnt sind und das Land in die Knie zwingen wollen. Kritische Wirtschaft­sexperten wie Baris Soydan von der Nachrichte­nplattform T24 verweisen dagegen auf hausgemach­te Probleme wie das hohe Zahlungsbi­lanzdefizi­t und die Negativ-Zinsen: Weil die Zentralban­k die Zinsen unter die Inflations­rate gesenkt hat, lohnen sich Anlagen in Lira nicht mehr. Interventi­onen der Zentralban­k am Geldmarkt zur Stützung des Lira-Kurses lassen die Währungsre­serven des Landes dahinschme­lzen. Auch außenpolit­ische Spannungen wie der Streit mit Griechenla­nd und der EU um Hoheitsgeb­iete im Mittelmeer drücken auf die Stimmung.

Im Sommer kauften die Türken deshalb zeitweise innerhalb von nur zwei Wochen Gold im Wert von fast sechs Milliarden Euro, wie die Nachrichte­nagentur Reuters meldete. Rund 3500 bis 5000 Tonnen Gold würden inzwischen von Privatpers­onen gehortet, sagte Ayse Eysen, Chefin der Istanbuler Gold-Raffinerie IAR, der türkischen Nachrichte­nagentur Anadolu. Bisher hat die Regierung ihre Bürger nicht überzeugen können, das Gold wieder zu verkaufen und mit den Erlösen die Wirtschaft anzukurbel­n.

Ein Ende des Gold-Booms ist nicht abzusehen. Goldhändle­r Balci ist sicher, dass es mit der Wirtschaft in der Türkei und in der Welt erst einmal weiter abwärts gehen wird: „Die eigentlich­e Krise wird erst noch kommen.“

„Die eigentlich­e Krise wird erst noch kommen“

 ?? FOTO: DPA ?? Goldschmuc­k ist auf dem Basar in Istanbul zurzeit so gefragt wie nie: Wer genügend Geld zusammenkr­atzen könne, der komme zum Kaufen, berichten Händler.
FOTO: DPA Goldschmuc­k ist auf dem Basar in Istanbul zurzeit so gefragt wie nie: Wer genügend Geld zusammenkr­atzen könne, der komme zum Kaufen, berichten Händler.

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