Vielen Menschen ist die Lust am Reisen durch das Coronavirus gründlich vergangen
s ist noch nicht einmal 120 Jahre her, dass die Brüder Wilbur und Orville Wright zum ersten motorisierten Flug der Welt ansetzten. Zwölf Sekunden blieb Orville Wright in der Luft, als er am 17. Dezember 1903 am Strand von Kitty Hawk jenen großen Sprung wagte. Er legte mit seinem motorbetriebenen Doppeldecker „Wright Flyer“eine Strecke von 37 Metern zurück. Seinem Bruder Wilbur gelang am gleichen Tag sogar ein Flug von 59 Sekunden und eine Strecke von 260 Metern. Die Luftfahrt war geboren. Schon im Ersten Weltkrieg mussten Flugzeuge an der Front kämpfen, in den 20er-Jahren beförderten die knatternden Ungetüme Poststücke und später auch Passagiere über die Luftstrecke. Schon bald starteten die ersten Linienflüge. Und der Zweite Weltkrieg war der erste bewaffnete Konflikt, der zu einem erheblichen Teil in der Luft entschieden wurde.
Der große Siegeszug des Menschheitstraums ließ sich nach 1945 nicht mehr aufhalten. Der Luftverkehr veränderte die Welt wie nur wenige Erfindungen vorher. Bald war es grundsätzlich möglich, innerhalb von 24 Stunden jeden beliebigen Punkt auf der Erde zu erreichen. Und mit der Ära der Billigflüge war das dann fast für jedermann sogar erschwinglich. Fliegen wurde so gewöhnlich wie Busfahren, zum Preis eines Taxis. Nutzten 1973 nach den Zahlen des internationalen Fluglinienverbands Iata noch 402 Millionen Menschen ein Flugzeug, so war es im Rekordjahr 2019 mit 4,5 Milliarden Passagieren bereits mehr als jeder zweite Erdbewohner. Neben dem Smartphone wurde das Fliegen für die meisten Menschen zur wichtigsten direkt spürbaren Errungenschaft der Technik.
Dann kam das Coronavirus – und der jähe Absturz. Was weder den explodierenden Ölpreisen noch dem internationalen
Terrorismus oder der drohenden Klimakatastrophe gelungen war, das schaffte der nur mit einem Mikroskop zu erkennende Erreger. Seit Ausbruch der Pandemie zu Beginn des Jahres brach der internationale Flugverkehr auf dem ersten Höhepunkt der Krise Anfang Mai um 70 Prozent ein. Die Zahl der weltweiten Passagiere wird in diesem Jahr fast 40 Prozent niedriger liegen als 2019, allein in Deutschland sind 118 Millionen Fluggäste weniger zu verzeichnen. Damit sinkt die Zahl auf fast die Hälfte des Wertes im Jahr zuvor. Der bedeutendste deutsche Carrier, die Lufthansa, nutzte im zweiten Quartal seine Kapazität
nur zu vier Prozent, der britische Billigflieger Easyjet blieb von Mitte März bis Mitte Juni komplett am Boden.
Brutal passen die über lange Zeit verwöhnten Airlines ihre Mitarbeiterzahlen an die neuen Zeiten an. Lufthansa will 27.000 der 135.000 Stellen abbauen, betriebsbedingte Kündigungen sind höchstwahrscheinlich. Den Supervogel von Airbus, den A 380, hat Konzernchef Carsten Spohr komplett ausgemustert. 14 Maschinen dieses Typs werden künftig am Boden bleiben. Aber auch die Mitbewerber kappen, was das Zeug hält. Die führenden US-Gesellschaften planen die Streichung von 40.000 der ursprünglich 140.000 Arbeitsplätze. In Europa gehen manche Konzerne wie die skandinavische SAS so weit, rund die Hälfte ihrer Belegschaft zu entlassen. Selbst der einstige High-Flyer der Branche, die irische Fluglinie Ryanair, muss seine Stammbesetzung von 17.000 um 3000 reduzieren.
Einen solchen Verlust hat die Branche noch nicht erlebt. Der Traum vom Fliegen ist erst einmal ausgeträumt. Und ob er jemals wieder Wirklichkeit wird, ist mehr als offen. Umweltschützer frohlocken, weil sie diesen Traum neben Auto und fossilen Kraftwerken als Klimakiller Nummer eins ausgemacht haben. Zwar trägt die Luftfahrt nur zu zwei Prozent zum weltweiten Ausstoß des Klimagases CO2 bei, für die Bewahrer der Schöpfung ist aber das schnelle Wachstum der weltweiten Flüge ein wichtiges Symbol. War im vergangenen Jahr noch von Flugscham die Rede, kommt jetzt noch die Angst hinzu, sich in den beengten Maschinen anzustecken. „Jetzt sehen doch alle, was es für das Klima und den CO2-Ausstoß heißt, wenn kein Flugzeug mehr fliegt und deutlich weniger Autos fahren“, sagt der Zukunftsforscher und Gegenwartspublizist Matthias Horx. „Viele Menschen fragen sich: 20-Euro-Flüge in europäische Städte – brauche ich das wirklich?“Manch ein Top-Manager, der mehr Tage im Flugzeug als auf der Erde verbrachte, wird sogar die Entschleunigung genießen, die das Virus brachte. Vollgestopfte Flieger, endlose Schlangen vor den Sicherheitsschleusen oder lieblose Verpflegung auf den Flügen – das wird erst einmal der Vergangenheit angehören. Zudem hat sich herausgestellt, dass die Fliegerei in vielen Fällen unnötig war. Videokonferenzen oder Familienzusammenkünfte per Direktschalte ersetzen die langwierigen und oft anstrengenden Reisen. Wenn dann die technisch noch immer holprigen Übertragungen perfektioniert werden, dürften viele Unternehmen auf diese billigere Kommunikationsform mit Wucht umstellen. Nur wenige Experten erwarten, dass der Umfang der Geschäftsreisen in absehbarer Zeit je wieder die alten Werte erreicht.
Selbst die so beliebten Kurztrips, die die Zahl der Flüge so rasant anschwellen ließen und internationale Flughäfen wie in Amsterdam, Barcelona oder München in wahre Trabantenstädte und Shopping Malls verwandelten, gehören erst einmal der Vergangenheit an. Gerade die zuletzt wieder stark ansteigenden Fallzahlen befeuern diese Entwicklung. Bis weit ins kommende Jahr wird das Coronavirus noch unseren Alltag bestimmen. Kein Wunder, dass vielen Menschen die Lust am Reisen erst einmal vergangen ist. Manche denken auch darüber nach, ob man wirklich jedes fünfte Wochenende zum Shoppen in eine europäische Hauptstadt fliegen muss – den Mallorca-Urlaub und den Trip in die USA oder nach Thailand nicht mitgerechnet.
Der Ausbruch der Corona-Pandemie hat die flugwütige Menschheit ein bisschen innehalten lassen. Ein bewussterer Umgang mit dem Transportmittel Flugzeug könnte durchaus die Folge sein. Zumal selbst beim Auslaufen der weiteren Infektionswellen oder dem Einsatz eines Impfstoffes die Fluglinien über Vorsorgemaßnahmen nachdenken dürften. Das große Stichwort lautet Resilienz, also die Robustheit eines Systems gegen Stressfaktoren von außen. Übertragen auf die Corona-Krise und mögliche andere Pandemien heißt das: Die besonders sensiblen Bereiche einer Gesellschaft müssen sich in Zukunft besser wappnen.
Das gilt besonders für die Luftfahrt. Gut möglich, dass künftig vor Flügen neben den Sicherheitskontrollen auch ein Virentest oder die Messung der Körpertemperatur erfolgt. In manchen chinesischen
Flughäfen ist das schon Realität.
Tatsächlich hat die Fliegerei auf die Herausforderung von Ölpreisschocks und Terroranschlägen gute Mechanismen der Abwehr entwickelt. Aber sie haben das Reisen auf dem Luftweg komplizierter gemacht. Die Anforderungen der Pandemie-Resilienz kämen nun hinzu. Auch das schafft Unannehmlicheiten und dämpft die Fluglust. Schließlich geht die Suche nach alternativen Transportsystemen unvermindert weiter. Aus Klimagründen könnten Inlandsflüge drastisch eingeschränkt und durch Fahrten mit Hochgeschwindigkeitszügen ersetzt werden. Vielleicht gibt es auch in der Luft unterschiedliche Geschwindigkeiten – etwa die bequeme Reise in einem Luftschiff oder der Turbotrip über das Weltall. Tesla-Gründer Elon Musk arbeitet schon an Konzepten für den Weltraumtransport.
Die Zukunft des alten Menschheitstraums ist bis jetzt nur in schattenhaften Umrissen zu erkennen. Die Fluglinien dürften weitere Durststrecken durchlaufen, etliche Gesellschaften, egal ob Billiganbieter oder klassische Carrier, werden ausscheiden. Die Digitalisierung wird eine neue Verteilung der Passagierströme erzwingen. Selbst das Reisen wird eine Zäsur erfahren, auch wenn viele Experten erwarten, dass die Menschen nach einem Abebben der Krankheit ihre alten Tourismusgewohnheiten wiederaufnehmen. Der bekannte Physiker und Science-Fiction-Autor Karlheinz Steinmüller meint sogar, dass „virtuelle und physische Mobilität Hand in Hand gehen“. Danach würden selbst die flugersetzenden Videokonferenzen den Wunsch brennen lassen, sich auch persönlich zu treffen. „Als Primaten ist uns die Lust auf Tuchfühlung eigen, evolutionär einprogrammiert“, erläutert der Wissenschaftler und Publizist. Doch das wird nicht ausreichen, dass die Fliegerei ihre alte Stärke und Selbstverständlichkeit wieder erreicht.
Und dann gibt es auch noch immer die Träumer, die zum Flughafen pilgern, um die MaschiAbflug nen bei und Landung zu beobachten. Die Sehnsucht nach der grenzenlosen Freiheit „über den Wolken“, wie Reinhard Mey in seinem wohl bekanntesten Lied singt. Mag sein, dass die harte Landung durch das Coronavirus das Fliegen in Zukunft wieder eher zur Besonderheit als zum Dauerzustand macht. Wenigstens könnten die Menschen dann ihre sonstigen Lieblingsbeschäftigungen wieder in den Bezug setzen, der einst in der goldenen Zeit des Luftverkehrs galt: „Nur Fliegen ist schöner.“
Die Lufthansa hat ihren Supervogel, den Airbus A 380, komplett ausgemustert