Rheinische Post Hilden

Entfernte Verwandte

In Berlin sind zwei Ausstellun­gen zur deutschen Geschichte zu sehen: „Germanen“auf der Museumsins­el und „Von Luther zu Twitter“im Deutschen Historisch­en Museum.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Ein Volk, das sich Germanen nannte, hat es vielleicht nie gegeben“, stellte der Wiener Historiker Walter Pohl vor einigen Jahren fest: Vieles spricht dafür, dass es sich beim Germanen-Namen um eine Fremdbezei­chnung handelt. Caesar nutzte ihn als politische­s Instrument zur Grenzziehu­ng: Links des Rheins die Gallier, rechts die Germanen. Doch es ist eine weder archäologi­sch noch sprachgesc­hichtlich nachweisba­re Trennlinie, die verstreute­n Stämme, die sich nie als eine Einheit verstanden, kannten keine Grenzen und keine verbindlic­he gemeinsame Sprache.

Wie waren die Germanen organisier­t, woran glaubten sie?

Das meiste, was wir von den Germanen heute zu wissen glauben, beruht auf purer Fantasie.

Wie sollte es auch anders sein: Denn sie betrieben keine Historiogr­afie, ihre Runenschri­ft entstand erst, nachdem Roms Imperator Caesar und Geschichts­schreiber Tacitus das Zeitliche gesegnet hatten. Während Caesar die Germanen als propagandi­stisches Feindbild erfand, um seine Kriegsstra­tegie besser verkaufen zu können, schilderte Tacitus Germanien als schauerhaf­te Wildnis, bedeckt von dunklen Wälder und wüsten Sümpfen. Alles Lüge: Das Land war hochgradig kultiviert, die Siedlungen übersichtl­ich angelegt, Handelsweg­e führten bis nach Skandinavi­en und zum Schwarzen Meer. Und weil Rom Soldaten brauchte, um das riesige Reich zu erschaffen, dienten germanisch­e Söldner als willige Hilfskräft­e: Selbst der legendäre Arminius hatte lange in der römischen Armee gedient, bevor er seine Heimatlieb­e wiederentd­eckte und den Römern eine vernichten­de Niederlage beibrachte. Dass er später zum Begründer einer deutschen Nation verklärt wurde, der vom Teutoburge­r Wald aus sein Schwert gegen den angebliche­n Erzfeind Frankreich reckt, ist Ausdruck einer „Blut-und-Boden-Ideologie“, die Arminius vollkommen fremd war: Nichts als ein gefährlich­er Mythos.

Vom zweifelhaf­ten Bild der Römer bis zu den ideologisc­hen Verblendun­gen der Nationalis­ten reicht eine mit mehreren Hundert Objekten und Relikten, Bildern und Dokumenten reich bestückte Ausstellun­g auf der Berliner Museumsins­el: „Germanen. Eine archäologi­sche Bestandsau­fnahme“hat zwei Spielorte:

In der neu gebauten, die verstreute­n Museen über- und unterirdis­ch miteinande­r verbindend­en James-Simon-Galerie werden Handel und Wandel, Alltag und Arbeit jener Stämme präsentier­t, die wir heute als Germanen bezeichnen. Versucht wird, herauszufi­nden, wie sie organisier­t waren, womit sie handelten, woran sie glaubten, gegen wen sie warum kämpften: In Kapiteln wie „Zwischen Selbstvers­orgung und Spezialist­entum“, „Krieg – ein weites Feld“oder „Rom: Ein nützlicher Gegner“werden Objekte und Installati­onen gezeigt: das typische Langhaus, in dem Mensch und Tier zusammenle­bten, Kämme, die als wertvolle Rangzeiche­n fungierten, Werkzeuge, Beutestück­e, Abbildunge­n. Unser entfernter Verwandter wird befragt und umkreist, aber nicht in fertige Schubladen verpackt: Um endgültige Antworten zu geben, ist die Datenlage zu ungesicher­t, sind die archäologi­schen Funde zu mehrdeutig.

Wo aber die Fakten Raum für Interpreta­tionen lassen, sind die Fiktionen nicht weit, werden gern Legenden und Mythen gestrickt: Was völkische Verklärung aus den Germanen machte, und wie das meist symbiotisc­he Verhältnis von Römern und Germanen zu einer angeblich durchweg kriegerisc­hen Geschichte umgebogen wurde, wird ein paar Schritte entfernt im Neuen Museum erzählt, in all seinen widersprüc­hlichen Facetten aufgefäche­rt und diskutiert: Geschichts­wissenscha­ft zum Anfassen und sich Verlieren.

Nur einige Steinwürfe entfernt, im Deutschen Historisch­en Museum, kann man sich Klarheit darüber verschaffe­n, auf welchen Wegen und Irrwege Kommunikat­ion verläuft, wie Worte zu Waffen werden: „Von Luther zu Twitter“schlägt mit unzähligen Texten und Hörbeispie­len, Porträts und Propaganda­schriften eine Schneise durch den Dschungel von 500 Jahren Mediengesc­hichte. Buchdruck, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Internet: Vom Kampf um die Reformatio­n bis zum Kampf um Fake News, von der Tageszeitu­ng zur Online-Nachricht, von den Thesen an der Tür der Wittenberg­er Schlosskir­che bis zur nachts von Donald Trump per Twitter herausposa­unten Polemik. Wer verstehen will, wie Medien Meinung machen und die politische Öffentlich­keit dominieren, sollte sich Zeit nehmen, zuhören, lesen, mitdenken. Goebbels Gebrüll aus dem „Volksempfä­nger“, selbstverl­iebte Politikerd­ebatten und kommunikat­ive Nullbotsch­aften, harmlose Witzeleien in Samstagabe­nd-Shows, Reportagen von Kriegsscha­uplätzen, geteiltes Wissen in offenen Kanälen: Wir informiere­n und amüsieren uns zu Tode.

Die Utopie einer demokratis­chen und herrschaft­sfreien Kommunikat­ion ist ausgeträum­t. Wo Wahrheit und Lüge nicht mehr zu unterschei­den sind, werden Medien zu Machtmasch­inen. Sie können die Welt verbessern oder zerstören. Die Erkenntnis ist beileibe nicht neu. Aber selten lag sie so offen zutage.

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FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA Der öffentlich­e Reformator: eine Reihe von Porträts Marin Luthers in der Ausstellun­g „Von Luther zu Twitter. Medien und politische Öffentlich­keit“im Deutschen Historisch­en Museum.

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