Anne Frank in vielen Facetten
Im Theaterprojekt „Liebe Kitty“des Jungen Schauspiels wird das berühmte Mädchen in mehrfach wechselnder Besetzung gespielt.
DÜSSELDORF Wie Anne Frank in ihrem Amsterdamer Versteck vom jungen Mädchen zur souveränen Schriftstellerin heranreifte, ist in ihrem Romanfragment „Liebe Kitty“nachzulesen. Darin überarbeitete sie in den letzen Monaten vor der Deportation ihre 1942 bis 1944 entstandenen Tagebücher. Sie richtete eine Vielzahl von Briefen an imaginäre Freundinnen, ein Versuch, Isolation und Enge zu entkommen. Aus einem größeren Kreis blieb Kitty als einzige Adressatin übrig. Nach einer ersten Veröffentlichung 1947 wurden die Aufzeichnungen 2019 wiederentdeckt und in Buchform herausgegeben.
Nun bekommt „Liebe Kitty“eine neue Dimension und wird am 12. November im Jungen Schauspiel
„Junge Menschen haben in der Pandemie kaum eine Lobby“
David Benjamin Brückel Dramaturg
als Uraufführung auf die Bühne gebracht. Regisseur Jan Gehler hatte als Jugendlicher die Tagebücher von Anne Frank gelesen – mit dem Gefühl, noch nie so nahe an den furchtbaren Geschehnissen gewesen zu sein. Als Dramaturg David Benjamin Brückel ihm das aufgetauchte Zeitdokument vorschlug, war er angetan: „Wir wollten das unbedingt machen, gerade für Zehnjährige.“
In der Auseinandersetzung mit der Figur wurde ihnen klar: „Jeder wollte etwas Besonderes von diesem berühmtesten Mädchen des 20. Jahrhunderts.“Der Stoff über Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus sei unverändert aktuell. „Wir hatten große Lust, uns dem Thema spielerisch zuzuwenden“, sagt Gehler: „Einen Wechsel zu finden aus Geschichtlichem und Gegenwärtigem. Das Unfassbare in Worte zu fassen, ohne mit den bekannten Bildern zu arbeiten.“
Der Kunstgriff der Düsseldorfer Inszenierung: Um mehrere Facetten Anne Franks zu beleuchten, wird sie von sechs Schauspielern und Schauspielerinnen verkörpert. Eva Maria Schindele gefällt diese Lösung. „Gut, dass es nicht nur eine Anne Frank gibt“, sagt sie. „An deren Darstellung kann man kläglich scheitern.“Sie war zwölf, als ihre Mutter ihr die Tagebücher gab. „Nazi-Zeit und Kriegsgeschehen bekam ich damals nur peripher mit“, erinnert sich die Schauspielerin. „Für mich ging es um ein Mädchen auf dem Weg zur Frau, so alt wie ich und mit den gleichen Problemen. Eine Identifikationsfigur, die mir nahe stand.“
Bei der Beschäftigung mit „Liebe Kitty“rückten ihr die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und die Millionen jüdischer Opfer deutlich stärker als zuvor ins Bewusstsein. „Mit ihrem Schicksal steht Anne Frank für alle anderen, die verfolgt und ermordet wurden. Dadurch wird sie einem vertraut und familiär.“Es sei durchaus schlüssig, dass auch männliche Schauspieler sie darstellen, erklärt Jan Gehler. Obwohl es das Frauwerden thematisiere, könne das Stück schließlich auch Jungs ansprechen, weil es seine Heldin zu einer „multiperspektivischen Persönlichkeit“mache.
Für Brücker bedeutet „Liebe Kitty“nicht nur Vergangenheitsbewältigung. „Wir haben es ja gerade jetzt wieder mit rassistischen und völkischen Strukturen zu tun, in vielen Teilen der Gesellschaft, bis hinein in die Kreise von Polizei und Bundeswehr“, sagt der Dramaturg. „Genügend Gründe, auch die Gegenwart zu bewältigen und schon früh mit einer Sensibilisierung zu beginnen.“
Theaterangebote für Kinder und Jugendliche seien in Corona-Zeiten wichtiger denn je: „Junge Menschen haben in der Pandemie kaum eine Lobby. Wir finden es wichtig, gemeinschaftliche Erfahrungen aufrecht zu erhalten, natürlich bei Beachtung aller Regeln.“
Eva Maria Schindele ist seit dieser Spielzeit fest im Ensemble. Ihre erste Berührung mit dem Jungen Schauspiel hatte sie als Gast in „Das doppelte Lottchen“zur Advents- und Weihnachtszeit 2019. Jetzt ist sie dabei, sich in Düsseldorf einzugewöhnen – ein Wechsel aus Wien, wo sie nach der Ausbildung an der Musikund
Kunstuniversität (MUK) noch zwei Jahre als freischaffende Künstlerin geblieben war, zuletzt in zwei Stücken am Burgtheater. Vor Kindern und Jugendlichen zu spielen, ist Eva Maria Schindele nicht fremd. Sie war schon die „Rote Zora“und „Alice im Wunderland“.
Der Unterschied zu einem erwachsenen Publikum? „Der liegt in der Reaktion, besser gesagt, der Reaktionslautstärke“, antwortet sie. „Und meistens geht es lustiger zu.“Die Schauspielerin wuchs im bayerischen Allgäu auf. „Ich war so schüchtern, dass ich als Siebenjährige in Ohnmacht fiel, als ich vor der Klasse ein Gedicht aufsagen sollte“, erzählt sie. In der Theatergruppe merkte sie, dass es ihr leichter fiel, in andere Rollen zu schlüpfen.
Zunächst studierte Eva Maria Schindele Psychologie, nahm nach dem Abschluss Kurs auf die Schauspielerei. Umkehr ausgeschlossen? Nicht ganz. „Meine Bachelorarbeit habe ich über Sprechangst, und wie man ihr mit den Mitteln des Theaters begegnet, geschrieben. Mag sein, dass sich eines Tages Psychologie und Schauspiel verknüpfen lassen.“