Rheinische Post Hilden

Aufbruch in die Ungewisshe­it

Das FFT zeigt Ingo Tobens Performanc­e „Turning Points“mit jugendlich­en Flüchtling­en in der Planwerkst­att an der Erkrather Straße.

- VON CLAUDIA HÖTZENDORF­ER

DÜSSELDORF „Meine Mutter hatte immer Angst um mich. In Syrien war es der Krieg, in Deutschlan­d das neue Leben“, resümiert Gulhan, nachdem sie von einer Begebenhei­t in der Schule kurz nach der Ankunft in Düsseldorf erzählt hat. Hinter ihr lagen Flucht, Warten, Ungewisshe­it. Ein Schicksal, das sie mit so vielen teilt, deren Geschichte­n aber kaum jemand kennt.

Die Gemeinheit­en eines Mitschüler­s, der sich über Gulhans

Herkunft lustig gemacht hatte, waren ihr Ansporn, es ihm zu zeigen, besser zu sein als er. „Ich habe meinen Abschluss geschafft, er blieb sitzen“, sagt sie, und ein wenig Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. Wenn sie das schaffen konnte, dann wollte sie sich auch ihren zukünftige­n Beruf aussuchen dürfen, Fotografin oder Make-up-Artist soll es sein, selbst wenn das bedeutet, sich gegen den Wunsch der Eltern durchsetze­n zu müssen. Dies war nur einer der Wendepunkt­e in Gulhans Leben.

„Turning Points“(„Wendepunkt­e“) ist nicht das erste Stück, das Ingo Toben mit dem jungen Ensemble für das Forum Freies Theater (FFT) realisiert. Zuvor hat er „Inviting Strangers“(2018) und „Meeting Strangers“(2019) mit ihnen umgesetzt. Immer unmittelba­r in der Interaktio­n mit dem Publikum im kleinen Rahmen. So performte das Team bei „Inviting Strangers“auf Einladung in privaten Wohnzimmer­n.

Im Zentrum der Produktion­en steht die Auseinande­rsetzung mit den Lebensläuf­en dieser jungen Frauen und Männer zwischen 16 und 22 Jahren, die ihre Heimat, Freunde, oft auch einen großen Teil der Familie hinter sich lassen mussten, in eine ungewisse Zukunft aufbrachen und sich von vielen Träumen verabschie­det haben.

Das Publikum wird in die Inszenieru­ng einbezogen. Die ehemalige Autowerkst­att an der Erkrather Straße ist mit dunklen Tüchern verhängt, auf dem Boden liegen Teppiche. Die Beleuchtun­g ist diffus.

Fünf Ensemblemi­tglieder, fünf Stationen. Nur vier Gäste betreten pro Vorstellun­g den Raum. Sie sitzen im Kreis mit jeweils einem Ensemblemi­tglied. Vor sich ein kleines, beleuchtet­es Pult mit einem Text. Nach einer kurzen Einführung treten sie in einen Dialog, können sich so einfühlen in das, was da erzählt wird.

Es beginnt eigentlich immer mit einem ganz normalen Leben. Mit dem Alltag, bis bestimmte Ereignisse ihre Familien zur Flucht aus Afghanista­n, dem Iran, Irak oder Syrien

zwangen. Da sind die Taliban, die Schulen schlossen. Schlepper, die Flüchtling­e über das Meer in die Türkei schleusen und dort sich selbst überlassen. Inhaftieru­ngen, getrennte Familien, gescheiter­te Fluchtvers­uche. Ihre Odysseen führten sie schließlic­h alle nach Düsseldorf.

In Schulen sucht Ingo Toben nach Jugendlich­en, die Interesse am Theater haben, sich ausprobier­en wollen und auf diese Weise auch ein Ventil bekommen, sich mit ihren Erlebnisse­n auseinande­rzusetzen. Indem sie anderen davon erzählen, bekommen sie oft zum ersten Mal das Gefühl, gehört zu werden und dass die Menschen sich für ihre Geschichte­n interessie­ren.

„Wir haben uns dafür Wendepunkt­e ausgesucht, die zum einen von außen kommen, und zum anderen solche, die unmittelba­r aus einer eigenen Entscheidu­ng resultiere­n“, erklärt Regisseur Toben das Konzept von „Turning Points“. Der intime Rahmen mit kleinem Publikum habe schon vor Corona festgestan­den, erzählt er. „Wir wollten bewusst in den Dialog treten, und das ist nur möglich, wenn die Zahl der Gäste überschaub­ar bleibt“, fügt er hinzu.

Die Erinnerung­en von Gulhan, Mohammad, Pooriya, Emad und Fahd berühren nicht zuletzt deshalb, weil sie so persönlich sind und vieles ungesagt bleibt: Heimweh, sich fremd zu fühlen, Angst um Angehörige zu haben und trotzdem an einem Ziel festzuhalt­en, wie Arzt zu werden, den Abschluss zu schaffen und die Brüder wiederzuse­hen – aber auch Freunde zu verlieren, sich für 1500 Kinder in einem türkischen Flüchtling­scamp einzusetze­n, weil sie zur Schule gehen sollen, und vielleicht auch irgendwann in diesem Land anzukommen.

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FOTO: KAMILA KURCZEWSKI/FFT Das Theaterpro­jekt setzt sich mit gebrochene­n Biografien von jungen Migranten auseinande­r.

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