Aufbruch in die Ungewissheit
Das FFT zeigt Ingo Tobens Performance „Turning Points“mit jugendlichen Flüchtlingen in der Planwerkstatt an der Erkrather Straße.
DÜSSELDORF „Meine Mutter hatte immer Angst um mich. In Syrien war es der Krieg, in Deutschland das neue Leben“, resümiert Gulhan, nachdem sie von einer Begebenheit in der Schule kurz nach der Ankunft in Düsseldorf erzählt hat. Hinter ihr lagen Flucht, Warten, Ungewissheit. Ein Schicksal, das sie mit so vielen teilt, deren Geschichten aber kaum jemand kennt.
Die Gemeinheiten eines Mitschülers, der sich über Gulhans
Herkunft lustig gemacht hatte, waren ihr Ansporn, es ihm zu zeigen, besser zu sein als er. „Ich habe meinen Abschluss geschafft, er blieb sitzen“, sagt sie, und ein wenig Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. Wenn sie das schaffen konnte, dann wollte sie sich auch ihren zukünftigen Beruf aussuchen dürfen, Fotografin oder Make-up-Artist soll es sein, selbst wenn das bedeutet, sich gegen den Wunsch der Eltern durchsetzen zu müssen. Dies war nur einer der Wendepunkte in Gulhans Leben.
„Turning Points“(„Wendepunkte“) ist nicht das erste Stück, das Ingo Toben mit dem jungen Ensemble für das Forum Freies Theater (FFT) realisiert. Zuvor hat er „Inviting Strangers“(2018) und „Meeting Strangers“(2019) mit ihnen umgesetzt. Immer unmittelbar in der Interaktion mit dem Publikum im kleinen Rahmen. So performte das Team bei „Inviting Strangers“auf Einladung in privaten Wohnzimmern.
Im Zentrum der Produktionen steht die Auseinandersetzung mit den Lebensläufen dieser jungen Frauen und Männer zwischen 16 und 22 Jahren, die ihre Heimat, Freunde, oft auch einen großen Teil der Familie hinter sich lassen mussten, in eine ungewisse Zukunft aufbrachen und sich von vielen Träumen verabschiedet haben.
Das Publikum wird in die Inszenierung einbezogen. Die ehemalige Autowerkstatt an der Erkrather Straße ist mit dunklen Tüchern verhängt, auf dem Boden liegen Teppiche. Die Beleuchtung ist diffus.
Fünf Ensemblemitglieder, fünf Stationen. Nur vier Gäste betreten pro Vorstellung den Raum. Sie sitzen im Kreis mit jeweils einem Ensemblemitglied. Vor sich ein kleines, beleuchtetes Pult mit einem Text. Nach einer kurzen Einführung treten sie in einen Dialog, können sich so einfühlen in das, was da erzählt wird.
Es beginnt eigentlich immer mit einem ganz normalen Leben. Mit dem Alltag, bis bestimmte Ereignisse ihre Familien zur Flucht aus Afghanistan, dem Iran, Irak oder Syrien
zwangen. Da sind die Taliban, die Schulen schlossen. Schlepper, die Flüchtlinge über das Meer in die Türkei schleusen und dort sich selbst überlassen. Inhaftierungen, getrennte Familien, gescheiterte Fluchtversuche. Ihre Odysseen führten sie schließlich alle nach Düsseldorf.
In Schulen sucht Ingo Toben nach Jugendlichen, die Interesse am Theater haben, sich ausprobieren wollen und auf diese Weise auch ein Ventil bekommen, sich mit ihren Erlebnissen auseinanderzusetzen. Indem sie anderen davon erzählen, bekommen sie oft zum ersten Mal das Gefühl, gehört zu werden und dass die Menschen sich für ihre Geschichten interessieren.
„Wir haben uns dafür Wendepunkte ausgesucht, die zum einen von außen kommen, und zum anderen solche, die unmittelbar aus einer eigenen Entscheidung resultieren“, erklärt Regisseur Toben das Konzept von „Turning Points“. Der intime Rahmen mit kleinem Publikum habe schon vor Corona festgestanden, erzählt er. „Wir wollten bewusst in den Dialog treten, und das ist nur möglich, wenn die Zahl der Gäste überschaubar bleibt“, fügt er hinzu.
Die Erinnerungen von Gulhan, Mohammad, Pooriya, Emad und Fahd berühren nicht zuletzt deshalb, weil sie so persönlich sind und vieles ungesagt bleibt: Heimweh, sich fremd zu fühlen, Angst um Angehörige zu haben und trotzdem an einem Ziel festzuhalten, wie Arzt zu werden, den Abschluss zu schaffen und die Brüder wiederzusehen – aber auch Freunde zu verlieren, sich für 1500 Kinder in einem türkischen Flüchtlingscamp einzusetzen, weil sie zur Schule gehen sollen, und vielleicht auch irgendwann in diesem Land anzukommen.