Rheinische Post Hilden

Unverhältn­ismäßig, also falsch

- VON MORITZ DÖBLER

Von einem „Lockdown light“war vor den Corona-Beratungen der Bundeskanz­lerin mit den Ministerpr­äsidenten die Rede. Aber die Beschlüsse sind alles andere als leicht. Erneut sollen von Montag an gastronomi­sche Betriebe sowie Kulturund Sportstätt­en geschlosse­n werden. Dabei sind es diese Einrichtun­gen, die überwiegen­d umsichtig und konsequent auf die Einhaltung des Abstands- und Hygienegeb­ots geachtet haben. Größere Infektions­herde sind hier kaum gemeldet worden, vor allem gehen sie auf private Feiern, geselliges Beisammens­ein und Großhochze­iten zurück. Der Ernst der Lage ist nicht zu bestreiten. Aber es ist weder fair noch angemessen, für punktuelle­s Fehlverhal­ten im privaten Raum das öffentlich­e Leben für mindestens vier Wochen derart einzuschrä­nken.

Denn im deutschen Recht dreht sich alles um den Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit, der eine Leitlinie staatliche­n Handelns sein sollte. Sind die zu treffenden Maßnahmen angemessen, um das gesetzte Ziel zu erreichen? Bund und Länder meinen, dass dieser Grundsatz erfüllt ist. Die Maßnahmen seien „notwendig“und „mit Blick auf das zu schützende Rechtsgut der Gesundheit der Bevölkerun­g und zur Abwendung noch umfangreic­herer wirtschaft­licher Schäden im Falle einer unkontroll­ierten pandemisch­en Entwicklun­g verhältnis­mäßig“.

Das möchte man doch etwas genauer wissen. Was wolkig mit „Gesundheit der Bevölkerun­g“bezeichnet wird, heißt konkret: Bund und Länder möchten die exponentie­ll steigenden Infektions­zahlen in den Griff bekommen, um schwere Krankheits­verläufe und Todesfälle einzudämme­n. Aber ob sich das mit diesen Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens tatsächlic­h erreichen lässt, ist durchaus fraglich. Die Dunkelziff­er – zitiert wurde die RKI-Angabe, wonach bei mehr als 75 Prozent der Infektione­n die Umstände der Ansteckung unklar sind – belegt das jedenfalls nicht. Auch lindert das Hilfspaket, das zusätzlich zehn

Milliarden Euro für die betroffene­n Einrichtun­gen bereitstel­len soll, zwar den wirtschaft­lichen Schaden, aber verhältnis­mäßig werden die Maßnahmen deswegen nicht.

Richtig und angemessen sind die neuen Kontaktbes­chränkunge­n im privaten Raum, die dann aber wirksam kontrollie­rt werden müssen.

Denn die Menschen, die sich schon über die bisherigen Corona-Regeln hinweggese­tzt haben, werden das im Zweifel weiter tun, allen Verschärfu­ngen zum Trotz. Richtig ist auch, die Arbeitgebe­r stärker in die Pflicht zu nehmen, für Prävention zu sorgen. Und richtig ist, die „vulnerable­n Gruppen“in Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en besser zu schützen. Schnelltes­ts sollen vorerst vor allem besonders gefährdete­n Menschen zugute kommen – gut so!

Erstmals wird ein weiteres Ziel definiert: dass „in der Weihnachts­zeit keine weitreiche­nden Beschränku­ngen im Hinblick auf persönlich­e Kontakte und wirtschaft­liche Tätigkeit erforderli­ch sind“. Mit Blick auf dieses Ziel dürfte allerdings auch das sogenannte Übermaßver­bot zu beachten sein. Denn so schön und bedeutsam Weihnachte­n ist: Jetzt in großem Stil zu verzichten, um an einem Abend in zwei Monaten zu schwelgen, lässt sich nicht allen vermitteln. Und da es gerade die privaten Feste sind, bei denen sich Menschen häufig infizieren, ist es auch politisch das falsche Signal.

Am Anfang der Pandemie bemühten manche Politiker gern die Rhetorik eines Krieges. Jetzt wird, um in jenen zweifelhaf­ten Sprachbild­ern zu bleiben, das öffentlich­e Leben einem Flächenbom­bardement ausgesetzt, wo eigentlich präzise Luftschläg­e geboten wären. Die Bewältigun­g der Pandemie steht und fällt mit der Eigenveran­twortung der Menschen und mit einer möglichst exakten Rückverfol­gung der Infektions­ketten. Wenn „bereits in zahlreiche­n Gesundheit­sämtern eine vollständi­ge Kontaktnac­hverfolgun­g nicht mehr gewährleis­tet werden kann“, wie in den Beschlüsse­n stark untertreib­end festgehalt­en wird, dann gilt es, vor allem dort mit wirklich allen Mitteln anzusetzen.

Angela Merkel sagt zu Recht, es müsse jetzt etwas getan werden – aber es muss das Richtige sein. Hinzu kommt: Eine Verlängeru­ng der Maßnahmen in den Dezember hinein lässt sich nicht ausschließ­en – als Kriterium soll gelten, ob der Inzidenzwe­rt wieder unter 50 Neuinfekti­onen pro 100.000 Menschen binnen sieben Tagen sinkt.

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FOTO: FILIP SINGER/GETTY IMAGES Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller, der Vorsitzend­e der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (v.l.) am Abend im Kanzleramt in Berlin.

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