Rheinische Post Hilden

Auf der Bremse

Damit die Menschen im Corona-Jahr wenigstens Weihnachte­n gemeinsam feiern können, gelten ab Montag wieder massive Kontaktbes­chränkunge­n.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Was hat Angela Merkel nicht alles versucht. „Die Lage ist ernst!“, „Bitte, bleiben Sie zu Hause!“, „Verzichten Sie auf jede Reise, jede Feier, die nicht zwingend notwendig ist!“– die Deutschen erleben in der Corona-Krise eine Seite der Kanzlerin, wie sie sie zuvor in den 15 Jahren ihrer Amtszeit nicht kennengele­rnt haben. Bitten, Mahnungen, Warnungen. Die sonst gern so sachliche Physikerin plötzlich mit viel Emotion in einer Krise, die sie für ein furchtbare­s Unglück hält, für die größte Herausford­erung seit dem Zweiten Weltkrieg.

Aber nun muss der 66-Jährigen der Geduldsfad­en gerissen sein. Schon ihr Podcast am Samstag, in dem sie einfach ihren Podcast aus der Vorwoche wiederholt­e und voranstell­te, dass ihr schlicht nichts Besseres einfalle, war ein Hinweis darauf. Das wäre so, als wenn Journalist­en ihren Kommentar von neulich noch mal drucken, weil sie finden, dass sie damit bereits recht hatten und es müßig ist, das nur noch mal anders aufzuschre­iben. Von drohendem „Unheil“hatte sie in den vergangene­n Wochen gesprochen und über zu weiche Maßnahmen geschimpft.

Merkel war es offensicht­lich jetzt leid, wie eine Mutter dem unvorsicht­igen Kind mit immer neuen Beschreibu­ngen zu erklären, dass die Herdplatte verdammt heiß ist. Deshalb betonte sie, dass „Wort für Wort“gelte, was sie in der Vorwoche gesagt habe. Etwa dieses: „Jeder Tag zählt.“An jedem neuen Tag schnellte die Zahl der Neuinfekti­onen dann aber weiter in die Höhe. 15.000 waren es am Mittwoch, die Zahl der Toten stieg innerhalb von nur zwei Wochen auf mehr als das Doppelte. Das übertrifft sogar Merkels schlimmste Befürchtun­gen.

„Wenn es bei diesem Tempo bleibt, kommen wir an unsere Leistungsg­renzen“, warnt sie deshalb am Mittwochab­end nach der Videoschal­te mit den Ministerpr­äsidenten. Es müsse dringend verhindert werden, dass es zu einem nationalen Notstand des Gesundheit­ssystems komme. Das wichtigste Instrument zur Eindämmung der Pandemie sei die Nachverfol­gung der Kontakte. Aber diese funktionie­re an vielen Stellen nicht mehr. Bei 75 Prozent der Fälle „wissen wir nicht mehr, woher die Infektione­n kommen“.

Deswegen haben die Regierungs­chefin und die Ministerpr­äsidenten, die lange genervt von Merkels Strenge waren, nun gemeinsam die Bremse

reingehaue­n. Sie vereinbart­en die Rückkehr zu massiven Kontaktbes­chränkunge­n, um die Gefahr der Ansteckung zu verringern.

Auch Thüringen will diesen Weg mitgehen, hat sich aber als einziges Bundesland vorbehalte­n, zuerst das Parlament zu befragen. Am 30. Oktober soll eine Sondersitz­ung stattfinde­n. In einer Protokolln­otiz unter den Beschlüsse­n von Bund und Ländern steht, dass die Verabschie­dung nicht richtungsw­eisend für das parlamenta­rische Verfahren in dem Bundesland sei. Eine Zustimmung

des Parlaments galt allerdings am Abend als sicher.

„Wir brauchen noch einmal eine nationale Kraftanstr­engung, eine befristete Kraftanstr­engung“, appelliert Merkel. Sie spricht von harten, belastende­n Maßnahmen für das gesamte Land. „Es ist heute ein schwerer Tag für politische Entscheidu­ngsträger“, betont sie. In etwa zwei Wochen sollen die Maßnahmen überprüft werden. Merkel hofft auf Verständni­s der Bürger. Sie weiß nur zu gut, wie umstritten die Entscheidu­ngen sind.

Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) ist derzeit Vorsitzend­er der Ministerpr­äsidentenk­onferenz (MPK). Seine Landespart­ei will am Samstag einen neuen Vorstand wählen. Dazu soll ein Parteitag mit 278 Delegierte­n zusammenko­mmen. Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey kandidiert. Wo bleibt die Vorbildfun­ktion? Müller kündigt noch in der Pressekonf­erenz ein Überdenken dieser politische­n Veranstalt­ung an.

CDU und Linke im Bund haben zwar mehr Delegierte als die Berliner

SPD, aber sie haben ihre Wahlpartei­tage mit erhebliche­n Schwierigk­eiten bereits abgesagt, um der Corona-Politik Glaubwürdi­gkeit zu verleihen. Der Streit in der CDU, deren Kandidat für den Vorsitz, Friedrich Merz, die Absage der Wahl als gezielten Schlag aus der Parteispit­ze gegen sich und nicht als Folge der Corona-Pandemie bewertet, geht heftig weiter. Die Junge Union teilte mit, dass der Landesverb­and Sachsen-Anhalt ihren beim Parteitag in Leipzig vor einem Jahr abgelehnte­n Vorschlag aufgenomme­n und beim Bundesvors­tand die Prüfung einer Urwahl beantragt habe.

Die Sorge von Regierunge­n in Bund und Ländern ist aber nicht, dass die CDU bis Weihnachte­n einen neuen Vorsitzend­en hat, sondern dass die Menschen im Land wenigstens gemeinsam Weihnachte­n feiern können. Denn das mag sich keiner vorstellen: harte private Kontaktbes­chränkunge­n, wenn die Sehnsucht vieler Menschen nach Zusammense­in und innerem Frieden im Jahr am größten ist.

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CDU) versucht, Mut zu machen. Es dürften die Fehler zu früher Lockerunge­n nicht wiederholt werden, warnt er. Aber bei allem Schwermut gebe es Grund zum Optimismus. Es handle sich diesmal um einen „milderen Lockdown“, Impfstoffe seien in Arbeit. Deshalb, erklärt Söder: „Es gibt auch ein Morgen.“

 ?? FOTO: FABRIZIO BENSCH/AFP ?? Der Vorsitzend­e der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, Michael Müller (l.), Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder bei der Pressekonf­erenz zu den Corona-Beschlüsse­n.
FOTO: FABRIZIO BENSCH/AFP Der Vorsitzend­e der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, Michael Müller (l.), Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder bei der Pressekonf­erenz zu den Corona-Beschlüsse­n.

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