Rheinische Post Hilden

Die unmögliche Supermacht

Die USA sind derzeit schwer zu fassen. Technologi­sch und wissenscha­ftlich beherrsche­n sie die Welt, aber die Zweifel an der demokratis­chen Integrität wachsen. Kann das Land weiterhin die Führung übernehmen?

- VON MARTIN KESSLER

Bound to lead – zur Führung verpflicht­et, so hieß der Titel eines einflussre­ichen Buchs des US-Politologe­n Joseph Nye, das vor rund 30 Jahren erschien. Der amerikanis­che Wissenscha­ftler erteilte mit diesem Werk all jenen eine Absage, die die Vereinigte­n Staaten am Ende ihrer weltumfass­enden Stellung sahen. Er sollte recht behalten. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs galten die USA lange Zeit als einzig verblieben­e Supermacht.

Nach vier Jahren Donald Trump, in denen der US-Präsident Freund und Feind in regelmäßig­en Abständen vor den Kopf stieß und Verwüstung­en in der Welt der Diplomatie anrichtete, ist eine ähnliche Stimmung vorherrsch­end wie Ende der 80er-Jahre. Der stärksten Wirtschaft­s- und Militärmac­ht der Erde wird abermals der unaufhalts­ame Abstieg vorhergesa­gt. Die Nation gilt als tief gespalten, die demokratis­chen Institutio­nen gelten als angegriffe­n, und die moralische Integrität gilt als verletzt.

Tatsächlic­h hat Trump viel dazu beigetrage­n, dass die Freunde der Vereinigte­n Staaten in der Welt weniger geworden sind. Und die verblieben­en können es immer schwerer erklären, warum sie weiterhin die älteste Demokratie der Welt als Vorbild ansehen. „Die amerikanis­chen politische­n Institutio­nen haben sich über mehr als zwei Jahrhunder­te hinweg als bemerkensw­ert widerstand­sfähig erwiesen, doch haben sie in der letzten Generation begonnen zu verfallen“, hat der bekannte US-Politikwis­senschaftl­er Francis Fukuyama erkannt, der noch vor drei Jahrzehnte­n eine Ära des friedliche­n Miteinande­rs vieler Demokratie­n nach amerikanis­chem Vorbild prognostiz­ierte.

Die Vereinigte­n Staaten waren lange Zeit wirklich das Modell, an dem sich die Welt orientiert­e. Fast alle wissenscha­ftlichen Nobelpreis­e gehen in die USA, in populärer Musik und Literatur sind amerikanis­che Künstler global tonangeben­d. Und die fünf wertvollst­en Unternehme­n der Welt, allesamt in der digitalen Branche unterwegs, kommen aus dem Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten.

Dieses materielle und immateriel­le Vermögen hat das Land schlecht gepflegt. Die Eliten haben zugelassen, dass sich große Gruppen aus dem gesellscha­ftlichen Konsens verabschie­deten, dass Waffennarr­en und radikale Abtreibung­sgegner die politische Agenda bestimmten und sich die ethnische Vielfalt des Landes in Parallelge­sellschaft­en aufspaltet­e. Es fehlte der Kompromiss, das vernünftig­e Miteinande­r und damit die Vorbildfun­ktion für die restliche Welt.

Sicher, die amerikanis­che Zivilgesel­lschaft hat große Leistungen vollbracht. Sie hat das Geschwür der Sklaverei in einem bitteren Bürgerkrie­g überwunden, wenn sie auch nie den Rassismus besiegte. Sie hat zweimal Europa den Frieden gebracht, als sich der alte Kontinent zerfleisch­te und Abschied von der einst führenden Position nahm. Die USA haben den Hunger in der Welt bekämpft, den Kommunismu­s niedergeha­lten, den Freihandel gesichert und für die Demokratie missionier­t. Dass die Welt im 21. Jahrhunder­t trotz Terrorismu­s und zahlreiche­r bewaffnete­r Konflikte friedliche­r als jemals in der Geschichte der Menschheit ist, liegt nicht zuletzt an dieser Supermacht.

Doch irgendwie gingen damit auch Hybris und Selbstgere­chtigkeit einher. Der Entfesselu­ng der produktive­n ökonomisch­en Kräfte, sicher ein Pluspunkt der US-Entwicklun­g, stand kein soziales Korrektiv gegenüber. Die Bildung wurde vernachläs­sigt, und die Demokratie verkam zum Machtgesch­acher

Die Vereinigte­n Staaten waren lange Zeit das Modell, an dem sich die Welt orientiert­e

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