Ein Comeback nach vielen Tragödien
Republikaner, auf scheinbar verlorenem Posten steht. Biden wirbt damit, dass er für Wandel und Zukunft steht. Als Heranwachsender noch wegen seines Stotterns verspottet, setzt er sich durch.
Wenige Wochen nach der Sensation folgt ein schwerer Schicksalsschlag. Kurz vor Weihnachten ist seine Frau mit den drei Kindern auf einer Landstraße unterwegs. Ihr Kombi prallt mit einem Lastwagen zusammen, Neilia, 30, und die einjährige Tochter Naomi sterben noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Die beiden Söhne Beau (3) und Hunter (2) überleben, müssen aber lange in einer Klinik behandelt werden. Biden trägt sich mit Suizidgedanken. Es ist seine Schwester, die ihn zurückholt ins Leben. Die Jungs, sagt sie, dürften nicht auch noch ihren Vater verlieren. Parteifreunde überreden den Senator in spe, es wenigstens für sechs Monate zu versuchen. Seinen Amtseid legt er in Beaus Patientenzimmer ab.
Um die Söhne abends ins Bett zu bringen, pendelt er an jedem Arbeitstag zwischen Wilmington und Washington, rund 90 Minuten für eine Strecke. Er behält es auch dann noch bei, als Beau und Hunter längst erwachsen sind. Bis 2008. Die Treue zur Bahn trägt ihm den Spitznamen Amtrak-Joe ein, nach Amerikas größtem Zugbetreiber.
Diese und andere Geschichten prägen das Bild, das Leute, die Joseph Robinette Biden jr. mögen, von dem Mann haben. Der Menschenfreund. Einer, der Trost spendet, weil er aus bitterer Erfahrung weiß, was Leid bedeutet. Einer, der sich jedem zuwendet, ohne Allüren.
Geboren am 20. November 1942 in Scranton, spricht Biden noch heute bei jeder Gelegenheit von der Industriestadt im Nordosten Pennsylvanias. Von den Scranton-Werten, wie er sie nennt: Zusammengehörigkeitsgefühl, Ehrlichkeit, Bescheidenheit. Dass er den Ortsnamen so oft in seine Reden einstreut, hat natürlich auch einen politischen Grund. Pennsylvania ist ein wichtiger Swing State, dort werden Wahlen entschieden. In Wahrheit hat Biden ganze neun Kindheitsjahre dort verbracht, ehe die Familie in den Küstenstaat
Delaware zog, wo sein Vater mit Gebrauchtwagen zu handeln begann.
Das Verhältnis zu Obama, dem Überflieger, ist zunächst ambivalent. Im Januar 2007 sagt er, dass man es mit dem ersten Mainstream-Afroamerikaner zu tun habe, der sich zu artikulieren verstehe, „hell im Kopf und sauber und ein gut aussehender Bursche“. Auch wenn es wohl nicht so gemeint war, klingt es dermaßen herablassend, dass viele den Kopf schütteln über den Mann, der im Gestern zu leben scheint. Obama verhilft ihm trotzdem zum unverhofften Karrieresprung, indem er ihm die Kandidatur für die Vizepräsidentschaft anträgt.
Im Kabinett gehört er zu den Skeptikern, wenn es um Interventionen in der Ferne geht. Vielleicht auch deshalb, weil er, wie viele andere im Senat auch, George W. Bush grünes Licht für den Einmarsch im Irak gegeben hatte. Aus dem Fiasko, das folgte, zieht er seine Lehren. Während Außenministerin Hillary Clinton einem Eingreifen in Libyen das Wort redet und sich letztlich durchsetzt, warnt Biden vor dem Chaos, das der Sturz Muammar al-Gaddafis auslösen könnte. Mit Blick auf Afghanistan plädiert er für gezielte Aktionen gegen Terrornetzwerke, nicht für einen andauernden Militäreinsatz.
Im Mai 2015 stirbt Beau Biden im Alter von 46 Jahren an einem Hirntumor, ein Aufstrebender, der es bereits zum Generalstaatsanwalt Delawares gebracht hatte. „Es ist passiert. Mein Gott, mein Junge. Mein wunderbarer Junge“, notiert der Vater in sein Tagebuch. Es liegt auch am Tod des Sohnes, dass er sich 2016 nicht fürs Weiße Haus bewirbt. Auch, aber nicht nur. Obama, erzählt er später im Vertrauen, habe ihm abgeraten. „Er war überzeugt davon, dass ich Hillary nicht besiegen würde“, zitiert ihn der „New Yorker“.
Dann das Frühjahr 2020. Diesmal präsentiert er sich als der Regierungserfahrene, bei dem man kein Risiko eingeht, wenn man ihm das höchste Staatsamt anvertraut. Und als Garant der amerikanischen Demokratie. Im Rennen gegen jüngere, eloquentere Parteifreunde macht er zunächst keine gute Figur, auch nicht im Duell mit dem linken Senator Bernie Sanders, der zwar älter ist, aber frischer und leidenschaftlicher wirkt. Manche schreiben ihn schon ab. In South Carolina bewahren ihn schwarze Wähler, die dort an der Parteibasis den Ton angeben, vor dem Aus. Auch, wahrscheinlich ganz wesentlich, wegen seiner Nähe zu Barack Obama. Was folgt, ist ein glänzendes Comeback.