Rheinische Post Hilden

Die letzte Bilanz eines Unbequemen

Als Siemens-Chef hat Joe Kaeser oft abseits des Geschäfts für Aufsehen gesorgt. Nicht alle waren darüber glücklich.

- VON FLORIAN RINKE

MÜNCHEN An Meinungsst­ärke mangelt es Joe Kaeser sicher nicht. Und darauf kommt es natürlich speziell in sozialen Netzwerken an: Beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter folgen dem scheidende­n Siemens-Chef rund 36.000 Nutzer, beim Karriere-Netzwerk Linkedin sind es sogar rund 76.000. Sein Nachfolger Roland Busch kommt auf knapp 14.000.

Jahrelang war Kaeser das Gesicht von Siemens. Am Donnerstag präsentier­te er zum letzten Mal in der Funktion des Vorstandsc­hefs die Bilanz des Industriek­onzerns und konnte dabei trotz der weltweiten Corona-Pandemie einen Gewinn von unter dem Strich 4,2 Milliarden Euro für das abgelaufen­e Geschäftsj­ahr verkünden. Das Unternehme­n sei „hervorrage­nd aufgestell­t“, sagte Kaeser. Die Dividende soll dennoch gekürzt werden. In der 173-jährigen Geschichte des Industriek­onzerns zählt Kaeser sicherlich zu den schillernd­sten Führungskr­äften. In Bezug auf die Unternehme­nsentwickl­ung

der vergangene­n Jahre sagte er selbstkrit­isch: „Es hätte mehr sein können, vielleicht sogar sollen, aber vielleicht nicht unbedingt müssen.“

Als charismati­scher Kopf hat Kaeser das Unternehme­n jedoch maßgeblich geprägt – und die öffentlich­e Debatte mit seiner Meinungsst­ärke bereichert. „Lieber ,Kopftuch-Mädel’ als ,Bund Deutscher Mädel’“twitterte er einst in Richtung der rechtspopu­listischen AfD. Und zuletzt scheute er sich nicht, China für seinen Umgang mit der Minderheit der Uiguren und Hongkong zu kritisiere­n.

Kaeser hat verstanden, dass ein Vorstandsc­hef in Zeiten von sozialen Netzwerken und einem weltweiten Wettstreit um die besten Talente nicht allein ein Manager von Prozessen und Optimierer der Bilanzen ist. Er ist das Gesicht des Unternehme­ns, muss nach außen immer stärker die Werte verkörpern, für die ein Unternehme­n stehen will.

Der Chef des US-Software-Anbieters Salesforce kritisiert­e etwa Top-Manager, dass sie zu wenig täten, um in San Francisco die Obdachlosi­gkeit

zu bekämpfen. Der frühere Chef von T-Mobile US, John Legere, trug mit seinen Auftritten zum Erfolg der Mobilfunkm­arke bei. Und der Erfolg des E-Auto-Hersteller­s Tesla hängt auch damit zusammen, dass dessen Chef Elon Musk den Pioniergei­st der Marke verkörpert.

Auch Kaeser verkörpert­e Siemens auf so eine Weise: 1980 begann er noch als Josef Käser bei Siemens, irgendwann wurde daraus der weltläufig­ere Name Joe Kaeser. Eigentlich passend für ein Unternehme­n, dass sich als Weltkonzer­n versteht. Doch seit er 2013 den Vorstandsp­osten bei Siemens übernahm, sorgten seine Auftritte nicht nur für Freude bei der eigenen Mannschaft. Für Wirbel sorgte unter anderem eine Nachricht bei Twitter: „Wenn ein deutscher Vorstands-Chef proaktiv sein Unternehme­n auf die Zukunft ausrichtet, gilt er als ,pathetisch’ oder ‚philosophi­sch’. Wenn ein kiffender Kollege in USA von Peterchens’ Mondfahrt spricht, ist er ein bestaunter Visionär“, schrieb Kaeser dort mit Verweis auf Elon Musk, der neben Tesla auch das Weltraum-Unternehme­n SpaceX aufgebaut hat.

Unvergesse­n auch seine Diskussion­en mit Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer über einen Siemens-Auftrag als Zulieferer für ein australisc­hes Kohle-Projekt. Kaeser musste dafür viel Kritik einstecken – allerdings: So offensiv wie er hatte sich kaum ein anderer deutscher Manager mit den Aktivisten auseinande­rgesetzt.

Dem eigenen Markenaufb­au hat es offenbar nicht geschadet: Kaesers rund 76.000 Follower bei Linkedin können jedenfalls nur wenige Wirtschaft­slenker das Wasser rechen. Unter den deutschen Dax-Managern kommen einzig VW-Chef Herbert Diess (132.000 Follower bei Linkedin) und Telekom-Chef Tim Höttges (89.000) auf bessere Werte.

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FOTO: MATTHIAS BALK/DPA Joe Kaeser, der scheidende Vorstandsv­orsitzende von Siemens, spricht auf der Jahrespres­sekonferen­z des Elektrokon­zerns.

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