Rheinische Post Hilden

Wie Lars Eidinger die Welt sieht

Der Schauspiel­er legt seinen ersten Bildband mit Fotografie­n vor. Sie dokumentie­ren das Unscheinba­re und feiern das Widerständ­ige. Manche kennt man bereits von seinem Instagram-Account, den er mit Hingabe pflegt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Erster Eindruck: Auf diesen Bildern ist das zu sehen, was passiert, wenn die Gegenwart gerade mal nicht stattfinde­t. Und obwohl zumeist keine Menschen abgebildet sind, zeigen die Bilder doch das Leben.

Lars Eidinger fotografie­rt nun auch noch. Wer ihm bei Instagram folgt, weiß, dass er das schon länger tut und zwar mit viel Enthusiasm­us. „Austistic Disco“heißt der Bildband, der nun bei Hatje Cantz erscheint, jenem Haus, das auch Gerhard Richter verlegt.

Eidinger wurde als Theater- und Filmschaus­pieler berühmt. Der 44-Jährige tritt als DJ auf, macht Musik und gestaltete für den NDR die tolle Talkshow „Die Geschichte eines Abends“, für die er Sophia Thomalla, Kevin Kühnert, Stefanie Hertel und den Herzchirur­gen Michael Hübler zusammenbr­achte. Er scheint alles zu können, alles zumindest ein bisschen, vielleicht möchte er alles auch nur ein bisschen können. Jedenfalls ist das vielen verdächtig: „Der soll sich auf seine Kernkompet­enz konzentrie­ren“, denkt mancher. „Ausverkauf!“, heißt es. Und als Eidinger Anfang des Jahres gemeinsam mit dem Modedesign­er Philipp Bree eine Tasche aus Rindsleder entwarf, deren Design an die Gestaltung der gestreifte­n Alditüte von Günter Fruhtrunk erinnerte, hagelte es Kritik. Die Tasche wurde nämlich zum Preis von 550 Euro angeboten, und auf Werbeaufna­hmen sah man Eidinger damit vor einer Obdachlose­n-Unterkunft.

Eidingers Fotos sind auf Reisen entstanden, in Seoul, La Rochelle, Köln, und auf Spaziergän­gen daheim in Berlin. Dem Betrachter vermittelt sich deren Charme erst, wenn er mehrere hintereina­nder sieht. Eidinger hat nämlich eine bestimmte Art, auf die Wirklichke­it zu blicken. Er entdeckt das Unscheinba­re, und entdecken ist hier buchstäbli­ch zu verstehen als ent-decken. Er deckt auf, wie schräg die Welt ist, wenn keiner hinsieht. Er dokumentie­rt die Schönheit des Zufälligen, er entlarvt die Illusion des Bestehende­n. Und er offenbart ein Herz fürs Widerständ­ige, für alle, die aus der Reihe tanzen. Die Helden dieser Fotos sind das einzige krumme Baguette inmitten von geraden Baguettes. Der bunte Ölfleck auf dem dunklen Asphalt. Und der Strandkorb auf dem Stahlbalko­n.

Großartig ist das Bild vom Friedhof, auf dem jemand eine Mülltonne so abgestellt hat, dass es wirkt, als werde sie von einem Engel gezogen. Oder der Baum, der durch ein Eisentor wächst, es geradezu aufzuessen scheint. Oder der Zaun, der mit der Ansicht eines Schlosses „verschöner­t“wurde, obwohl er vor einem Wohnsilo steht. Simon Strauß zitiert in seinem Begleittex­t Gottfried Benn: Auf diesen Bildern „fällt einen die Leere an“.

Die Ansichten durchweht Melancholi­e. Manche Szenerien haben den Anschein, als seien sie stehenund zurückgebl­ieben, während die

Gegenwart weitergezo­gen ist. Die Zukunft spielt jedenfalls woanders. Wenn Menschen auftreten, schlafen oder dösen sie. Sie wirken unbehaust und schutzbedü­rftig. Geworfen in die Existenz. Ausgelaugt von etwas, das nicht mehr zu sehen ist. „Symbolbild­er einer erschöpfte­n Zeit“nennt Simon Strauß die Fotos.

Eidinger hat gesagt, er habe als Schüler Fotograf werden wollen. Das älteste Bild in diesem Band entstand tatsächlic­h bereits 1982: Darauf ist der Hamster der Eidingers zu sehen. Das Tier steckt in einer Klopapierr­olle, die auf dem Sofatisch steht. Und dass Eidinger diesen Eidinger-Blick auf seine Umwelt damals bereits kultiviert­e, zeigt ja auch: Das Festhalten von Momenten ist für ihn eine Möglichkei­t, die Welt zu erschließe­n und zu verstehen. Vielleicht ist er deshalb an allem interessie­rt und auf alles neugierig, bestimmt macht er deshalb alles ein bisschen, weil nur alles zusammenge­nommen das Ganze ergibt und also das Leben ist. Eidinger hat Lust aufs Leben.

Die Fotos in „Autistic Disco“sind Kleinigkei­ten. Zwischen zwei Atemzügen aufgenomme­n, während eines Blinzelns, im Vorübergeh­en. Sie dokumentie­ren Augenblick­e, die in 100 Jahren in keinem Geschichts­buch stehen werden. Zu sehen ist nicht Welthistor­ie, sondern Gefühlsges­chichte.

 ?? FOTOS (3): LARS EIDINGER/HATJE CANTZ ?? Der Bildband „Autistic Disco“zeigt vor allem Fotos menschenle­erer Szenen. Nicht selten sind es aber komische Momente, wie der Engel, der eine Mülltonne zu ziehen scheint.
FOTOS (3): LARS EIDINGER/HATJE CANTZ Der Bildband „Autistic Disco“zeigt vor allem Fotos menschenle­erer Szenen. Nicht selten sind es aber komische Momente, wie der Engel, der eine Mülltonne zu ziehen scheint.
 ??  ?? Die Fotos widmen sich auch den mittelmäßi­gen Illusionen des Alltags.
Die Fotos widmen sich auch den mittelmäßi­gen Illusionen des Alltags.
 ??  ?? Melancholi­e bestimmt einige der Aufnahmen.
Melancholi­e bestimmt einige der Aufnahmen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany