Wie Lars Eidinger die Welt sieht
Der Schauspieler legt seinen ersten Bildband mit Fotografien vor. Sie dokumentieren das Unscheinbare und feiern das Widerständige. Manche kennt man bereits von seinem Instagram-Account, den er mit Hingabe pflegt.
DÜSSELDORF Erster Eindruck: Auf diesen Bildern ist das zu sehen, was passiert, wenn die Gegenwart gerade mal nicht stattfindet. Und obwohl zumeist keine Menschen abgebildet sind, zeigen die Bilder doch das Leben.
Lars Eidinger fotografiert nun auch noch. Wer ihm bei Instagram folgt, weiß, dass er das schon länger tut und zwar mit viel Enthusiasmus. „Austistic Disco“heißt der Bildband, der nun bei Hatje Cantz erscheint, jenem Haus, das auch Gerhard Richter verlegt.
Eidinger wurde als Theater- und Filmschauspieler berühmt. Der 44-Jährige tritt als DJ auf, macht Musik und gestaltete für den NDR die tolle Talkshow „Die Geschichte eines Abends“, für die er Sophia Thomalla, Kevin Kühnert, Stefanie Hertel und den Herzchirurgen Michael Hübler zusammenbrachte. Er scheint alles zu können, alles zumindest ein bisschen, vielleicht möchte er alles auch nur ein bisschen können. Jedenfalls ist das vielen verdächtig: „Der soll sich auf seine Kernkompetenz konzentrieren“, denkt mancher. „Ausverkauf!“, heißt es. Und als Eidinger Anfang des Jahres gemeinsam mit dem Modedesigner Philipp Bree eine Tasche aus Rindsleder entwarf, deren Design an die Gestaltung der gestreiften Alditüte von Günter Fruhtrunk erinnerte, hagelte es Kritik. Die Tasche wurde nämlich zum Preis von 550 Euro angeboten, und auf Werbeaufnahmen sah man Eidinger damit vor einer Obdachlosen-Unterkunft.
Eidingers Fotos sind auf Reisen entstanden, in Seoul, La Rochelle, Köln, und auf Spaziergängen daheim in Berlin. Dem Betrachter vermittelt sich deren Charme erst, wenn er mehrere hintereinander sieht. Eidinger hat nämlich eine bestimmte Art, auf die Wirklichkeit zu blicken. Er entdeckt das Unscheinbare, und entdecken ist hier buchstäblich zu verstehen als ent-decken. Er deckt auf, wie schräg die Welt ist, wenn keiner hinsieht. Er dokumentiert die Schönheit des Zufälligen, er entlarvt die Illusion des Bestehenden. Und er offenbart ein Herz fürs Widerständige, für alle, die aus der Reihe tanzen. Die Helden dieser Fotos sind das einzige krumme Baguette inmitten von geraden Baguettes. Der bunte Ölfleck auf dem dunklen Asphalt. Und der Strandkorb auf dem Stahlbalkon.
Großartig ist das Bild vom Friedhof, auf dem jemand eine Mülltonne so abgestellt hat, dass es wirkt, als werde sie von einem Engel gezogen. Oder der Baum, der durch ein Eisentor wächst, es geradezu aufzuessen scheint. Oder der Zaun, der mit der Ansicht eines Schlosses „verschönert“wurde, obwohl er vor einem Wohnsilo steht. Simon Strauß zitiert in seinem Begleittext Gottfried Benn: Auf diesen Bildern „fällt einen die Leere an“.
Die Ansichten durchweht Melancholie. Manche Szenerien haben den Anschein, als seien sie stehenund zurückgeblieben, während die
Gegenwart weitergezogen ist. Die Zukunft spielt jedenfalls woanders. Wenn Menschen auftreten, schlafen oder dösen sie. Sie wirken unbehaust und schutzbedürftig. Geworfen in die Existenz. Ausgelaugt von etwas, das nicht mehr zu sehen ist. „Symbolbilder einer erschöpften Zeit“nennt Simon Strauß die Fotos.
Eidinger hat gesagt, er habe als Schüler Fotograf werden wollen. Das älteste Bild in diesem Band entstand tatsächlich bereits 1982: Darauf ist der Hamster der Eidingers zu sehen. Das Tier steckt in einer Klopapierrolle, die auf dem Sofatisch steht. Und dass Eidinger diesen Eidinger-Blick auf seine Umwelt damals bereits kultivierte, zeigt ja auch: Das Festhalten von Momenten ist für ihn eine Möglichkeit, die Welt zu erschließen und zu verstehen. Vielleicht ist er deshalb an allem interessiert und auf alles neugierig, bestimmt macht er deshalb alles ein bisschen, weil nur alles zusammengenommen das Ganze ergibt und also das Leben ist. Eidinger hat Lust aufs Leben.
Die Fotos in „Autistic Disco“sind Kleinigkeiten. Zwischen zwei Atemzügen aufgenommen, während eines Blinzelns, im Vorübergehen. Sie dokumentieren Augenblicke, die in 100 Jahren in keinem Geschichtsbuch stehen werden. Zu sehen ist nicht Welthistorie, sondern Gefühlsgeschichte.