Rheinische Post Hilden

Richard Wagner infizierte das 20. Jahrhunder­t

Alex Ross hat ein Buch über Wagners Einfluss auf die Moderne geschriebe­n. Der war überall spürbar – in Politik, Literatur, Kunst und Film.

- VON WOLFRAM GOERTZ

NEW YORK Der Science-Fiction-Autor Philip K. Dick entwarf 1981 in seinem Roman „Valis“eine köstliche Szene. Richard Wagner kommt in den Himmel und jammert: „Ihr müsst mich reinlassen. Ich habe ,Parsifal‘ geschriebe­n. Es geht um Gral, Christus, Leiden, Mitleid und Heilung. In Ordnung?“Herbe Antwort: „Nun, wir haben es gelesen, und es ergibt keinen Sinn.“

Auf derart entlegene Pointen sind selbst Wagneriane­r nicht trainiert. Wagner ist so maßlos verzweigt, dass seine Kartierung in der Sekundärli­teratur irgendwann unter Spezialist­en aufgeteilt wurde. Wagner und Hitler. Wagner und die Dirigenten. Wagner und das Weibliche. Doch Wagner und Science-Fiction – das ist fast unbeackert­es Gebiet.

Jetzt wagt sich Alex Ross, Musikkriti­ker des „New Yorker“, an eine Aufgabe, für die bei Wagner die Riesen

aus „Rheingold“zuständig wären: Er baut eine 906 Seiten starke Burg, in deren Räumen er spektakulä­re Funde der Wagner-Literatur zusammentr­ägt. Von der Zeitachse aus arbeitet sich der Generalist Ross durch sämtliche Etagen, durch Politik und Kunst, Philosophi­e und Werkdeutun­g, Theologie und Kompositio­nslehre. Das Ergebnis ist grandios. Wer dem Meister auf höchstem Niveau begegnen möchte, muss in „Die Welt nach Wagner“eindringen (Rowohlt, 40 Euro).

Die Reise führt den Leser kreuz und quer durchs Gelände, natürlich zu Hegel, Nietzsche und LéviStraus­s, doch auch zu Schweizer Würstel, die dortzuland­e, sofern riesig, schon mal „wagneriani­sch“genannt werden. Nun, seltsame Formen von Kult herrschten schon, als der Meister 1883 in Venedig verschied: „Drei Waggons mit Kränzen“fuhren vom Lido nach Bayreuth.

Dass die größten Denker und größten Tyrannen bei Wagner weich wurden, lag an der toxischen Verbindung entlegener, aber weltgültig­er Geschichte­n mit einer Musik, die eigentlich unter das Betäubungs­mittelgese­tz fällt. Die mythischen Stoffe, im Klang verdichtet, waren der Schlüssel, mit dem Wagner zum Publikum vordrang. Zwar sei der Einfluss von Monteverdi, Bach oder

Beethoven auf die Musikgesch­ichte nicht minder groß gewesen, sagt Ross, doch bei Wagner öffnete sich auch die Politik für jene Symbolik, die er ausbreitet­e. Die Suggestivi­tät hing eng mit der Präsentati­on zusammen: „Die Aufführung­en in seinem Festspielh­aus nahmen das Kino vorweg und beschworen im Dunkel alte Sagen herauf.“

Der Autor überblickt fast mühelos das bald 150-jährige Wehen und Wüten, das Wagner über die Welt brachte: zur NSDAP, die bereits Wagneriane­r in ihren Reihen hatte, als Hitler erstmals in Erscheinun­g trat. Zu James Joyce, der in „Finnegans Wake“Wagner als „Stoffbasis für mythisches Material“nutzte. Zu dem Russen Wsewolod Meyerhold, der sich für sein bolschewis­tisches Theater von den radikalen Elementen Wagners elektrisie­ren ließ. Bald geht es zu Wassily Kandinsky, der bei „Lohengrin“„alle meine Farben im Geiste sah“, geht es zu Patrice Chéreaus Bayreuther „Ring“, zu Fantasy und zum Film, zu Billy Wilder und sogar zu „Matrix“von 1999: Wenn Keanu Reeves als Neo Pistolenku­geln kraft seiner Gedanken im Flug aufhält, erinnert das den Autor an Parsifal, der Klingsors Speer in der Luft einfriert.

Und Hitler? Der wäre der Welt womöglich erspart geblieben, wenn er als Wagner-Jünger und Laienkünst­ler wie erhofft beim Bühnenbild­ner Alfred Roller in die Lehre gegangen wäre. „Doch als Maler hatte Hitler keine Zukunft“, schreibt Ross, „ihm fehlte das Gefühl für menschlich­e Figuren.“Für die Folgen von Hitlers späteren Vernichtun­gsfeldzüge­n macht Ross den Komponiste­n indes nur begrenzt verantwort­lich – Wagner habe anti-totalitär und anarchisti­sch gedacht und „organisier­te Macht verabscheu­t“.

Zwar schaltet Ross im Epilog das Saallicht an: „Sein hässlicher Rassismus wird immer ein Riss in dem Bild sein, das die Nachwelt von ihm hat.“Doch an der Wirkmacht der Musik ändert das nichts, und im Herzen tragen wir einige seiner Figuren sowieso auf ewig: Senta, Elsa, Sachs, Isolde, Sieglinde, Fasolt, Brünnhilde – und sogar Wotan. Wie bitte: diesen ruchlosen Strippenzi­eher der Macht? Ja, auch Wagners Götter sind nur Menschen.

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FOTO: DPA Adolf Hitler bei den Bayreuther Festspiele­n 1938, mit Winifred Wagner (links) und ihrem Sohn Wieland (rechts).

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