Die Geister, die Oliver Bierhoff rief
Corona bringt ja viele zum Nachdenken, offenbar auch Oliver Bierhoff, den für Nationalmannschaften zuständigen Direktor beim Deutschen Fußball-Bund. Vielleicht ist ihm in stillen Stunden im Homeoffice aufgefallen, „dass wir nicht mehr der Deutschen liebstes Kind sind“. Jedenfalls sieht er „eine dunkle Wolke über der Nationalmannschaft“.
Diese Eindrücke haben ihn so aufgewühlt, dass er sie vor dem Länderspiel gegen Tschechien gleich der Öffentlichkeit unterbreiten musste. „Wir sind nicht mehr das Lagerfeuer“, um das sich die Fußball-Öffentlichkeit versammelt, sagte er, „es ist so, dass wir Sympathien verspielt haben“.
Das sind mal Erkenntnisse. Sie sind weniger verblüffend als die Tatsache, dass Bierhoff ein paar Jahre benötigte, ehe ihn diese Einsicht ereilte.
Schließlich versammeln sich nicht erst seit dem Tiefpunkt bei der WM 2018 in Russland, als die Nationalelf nach der Vorrunde aus dem Turnier flog, deutlich weniger Menschen ums Lagerfeuer, wenn der DFB ruft. Als noch Zuschauer in die Stadien durften bei Länderspielen, gähnten in Leipzig, Mönchengladbach und Dortmund riesige Lücken auf den Rängen. Und seit Corona, da das Lagerfeuer im TV-Gerät entzündet wird, rutschen die Quoten munter in den Keller. Nur noch gut die Hälfte der früher locker erreichten zehn Millionen schauen zu, wenn die Nationalmannschaft spielt – jene Mannschaft, die Bierhoff immer noch für die wichtigste in Deutschland hält.
Den Kredit bei ihrem vorerst mal einstigen Stammpublikum hat die DFB-Auswahl nicht mal allein durch schwächere Leistungen verspielt. So furchtbar schlecht ist ihre Bilanz ja nicht, auch wenn sie sich in jüngerer Vergangenheit wacklige Schlussphasen leistet und selbst wenn der
Umbruch längst nicht geschafft ist.
Das Problem liegt woanders. Es liegt bei Bierhoff selbst und der entrückten Abgehobenheit von Bundestrainer Joachim Löw. Mit einer Vermarktungsmaschine hat der smarte Manager Bierhoff den Verband und seine wichtigste Mannschaft in nun 16 ereignisreichen Jahren gründlich renoviert. Das war sicher notwendig, und es trug dem DFB ordentlich Geld ein.
Aber es kam der Punkt, an dem Bierhoff, seine Vermarktungsmaschine und Löw sich selbstständig machten und die Bodenhaftung verloren. Spätestens, als der Manager dem Team zur EM in Frankreich 2016 den Namen „La Mannschaft“verpasste, waren nicht nur die Grenzen
des sprachlichen Geschmacks überschritten. Dieses Logo ließ er auf Bus und Flugzeug pinseln. Und er schien gar nicht zu bemerken, wie er die Mannschaft damit in eine künstliche Blase beförderte. So wird sie vom Publikum seither wahrgenommen – als Produkt, das ein eigenes Leben führt. Der Fan zahlt für die Besichtigung des Produkts. Er ist
beim DFB zum Kunden degradiert in einem an Künstlichkeit beispiellosen Fanclub der Nationalmannschaft, „powered bei Coca Cola“.
Es ist eine kühle, wenig leidenschaftliche Parallelwelt entstanden. Schon vor Corona hatte die Atmosphäre bei Länderspielen im Stadion Ähnlichkeit mit der Aufführung eines Theaterstücks vor einer weitgehend schweigenden Gemeinde.
Wer nicht im Stadion schwieg, der bekannte sich auch außerhalb nicht mehr. Die Entfremdung zwischen Publikum und DFB-Auswahl ist offensichtlich. Dieser Vertrauensverlust wäre auch nicht durch Bierhoffs Entlassung zu beheben, wie es viele in den Internetforen fordern. Bierhoff hat im DFB Strukturen geschaffen, die den Verband aus der Nähe zum Fan verabschiedet haben und die Löw einfach davonschweben lassen. Es ist wie bei Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die der DFB rief, wird er nun nicht mehr los.