Löw wird zum Problem
Der Bundestrainer beteuert, er stehe über den Dingen. Mit dieser Lässigkeit steckt er offenbar seine Mannschaft an, die sich ohne Gegenwehr in ein 0:6 in Spanien fügt. Vorerst aber wolle man so weitermachen wie bisher, teilte der DFB mit.
Den Satz des Jahres hat er im Oktober gesagt. Die DFB-Auswahl hatte sich in der Ukraine zum ersten Sieg in der Nations League (2:1) gequält, und in der Heimat ätzten Experten über das flaue Spiel, groteske Abwehrschwächen und die Sturheit des Bundestrainers. Sie beklagten sein System und den Verzicht auf formstarke Altinternationale, die er aufs Abstellgleis geschoben hatte. Joachim Löw jedoch sprach: „Jeder kann Kritik äußern, aber ich stehe über den Dingen.“Da musste mancher tief Luft holen.
Erst recht nach der erschreckenden Vorstellung, die Löws Elf zum Abschluss des Länderspieljahres beim 0:6 in Spanien ablieferte. Ein lebloses, lautloses, unscheinbares Team fügte sich in die zweithöchste Niederlage der Geschichte (1909 gab es ein 0:9 in England). Löw stammelte mit bitterer Miene, es sei „irgendwie ein rabenschwarzer Tag“gewesen. Die Fassade unerschütterlicher Gelassenheit, die ihn begleitet wie der Espresso bei den Pressekonferenzen, wich tiefer Ratlosigkeit. So starr, wie Löw an der Linie den Auftritt erlebte, so schattenhaft wirkte sein Team. Vielleicht hat er es mit seiner lässigen Haltung in der matten Einstellung bestärkt, verantwortlich ist er dafür jedenfalls.
Lässigkeit gehört zum öffentlichen Wesen Löw. Lässigkeit panzert ihn gegen Angriffe, in seinen besten Zeiten (um 2014) war sie Ausdruck einer großen Freiheit, einer von den Aufgeregtheiten des Geschäfts unbelasteten Souveränität. Inzwischen trägt sie ihn in wolkige Weiten.
Diese Entrücktheit führte schon früher zu wenig gelungenen Auftritten, die den Eindruck unterstreichen, der freundliche Herr aus dem Breisgau sei nun vollends abgehoben. Zum Beispiel im verheerenden WM-Sommer 2018. Während nach prekären Vorstellungen seiner Elf der Untergang des Abendlandes drohte, stellte sich der Bundestrainer auf Bitten eines Fotografen unter eine Laterne an der Promenade des Badeortes Sotschi. Versonnen blickte er ins Irgendwo. Deutlicher hatte noch keiner aus dem DFBTross demonstriert, dass ihn der Alltag so gar nicht mehr berührt.
Was sollen auch einen die alltäglichen Sorgen kümmern, der nun seit 14 Jahren die Nationalmannschaft führt? Der bis 2018 geradezu erschütternd erfolgreich war und sich sportlich unsterblich machte, als seine Elf 2014 Weltmeister wurde.
Löw musste sich unfehlbar vorkommen und sich vom Boden, auf dem das Normale wohnt, verabschieden. Sein Arbeitgeber unterstrich diese Ansicht, indem er vorzeitig den Vertrag verlängerte. Die vorläufig letzte Großtat auf diesem Gebiet beging der inzwischen abgelöste DFB-Präsident Reinhard Grindel. Er wolle dem Fall vorbeugen, dass sein Coach nach einer erfolgreichen WM in Russland bei anderen Arbeitgebern auf die Liste der Wunschkandidaten geraten würde, erklärte er.
Auch als die grotesk missratene WM aus Löw keinen Kandidaten für andere Spitzenjobs machte, entschied Grindel, dass Löw der richtige Mann für einen fälligen Neuaufbau sei. Das tat er übrigens bereits am Frankfurter Flughafen nach der Rückkehr aus Russland.
Wenn Löw mal Zweifel an der eigenen Qualifizierung beschlichen haben könnten, waren sie damit endgültig beseitigt. Bis heute sagt er Sätze, die das illustrieren. „Wir haben einen klaren Plan“, ist einer. Oder: „Dass es unterschiedliche Meinungen gibt, erlebe ich seit 16 Jahren.“Und: „Ich treffe meine Entscheidungen nicht nach Dingen, die in der Öffentlichkeit von mir erwartet werden, sondern aus Überzeugung.“Widerrede zwecklos, sie gleitet einfach ab.
Dennoch tut er sich schwer mit Entscheidungen. So etwas fällt sehr in den Bereich ungemütlichen Arbeitsalltags. Und das ist viel weniger seine Welt als der Blick aufs große Ganze und die entspannte Weitsicht. Außerdem sind Entscheidungen oft Entscheidungen für oder gegen Spieler, gegen Menschen. Das stört seinen Hang zur Harmonie und passt so gar nicht zum freundlichen Menschen Löw, den ja nicht zufällig alle Jogi nennen.
Auch bei seiner spektakulärsten Personalentscheidung hat Löw lange gezaudert. Nach dem WM-Desaster 2018 erhob er zunächst öffentlich seine Routiniers Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller zur „Achse der Erfahrenen“, die ein Team beim Neuaufbau brauche, sortierte das Trio allerdings im Frühjahr 2019 bei einem Besuch auf dem Bayern-Trainingsgelände in bemerkenswerter Kälte aus.
Die Diskussion über die ehemalige Achse der Erfahrenen begleitet die Auftritte von Löws Elf seither. Erst recht nach dem Debakel in Spanien. Er beteuert standhaft: „Wir haben uns grundsätzlich entschieden, diese Spieler nicht zu nominieren.“ Vielleicht zwingt ihn die ungeliebte Realität dazu, eine Rolle rückwärts hinzulegen. Denn wenn die Spiele seit dem Verzicht auf das Trio einen Schluss zulassen, dann den: Das Spiel nach vorn ist manchmal attraktiv, das Abwehrverhalten aber stimmt nicht, und es gibt auf dem Platz niemanden, der den Laden vernünftig zusammenhält. Vor allem Hummels wäre eine erstklassige Führungskraft. Und Müller würde dem Haufen braver Jungs deutlich mehr Leben einhauchen.
Spätestens bei der EM 2021 wird Löw sich am Erfolg messen lassen müssen. Das hat Oliver Bierhoff unmissverständlich festgestellt. Der DFB-Direktor erklärte in der „FAZ“: „Den Weg, den der Bundestrainer eingeschlagen hat, gehe ich bis zur EM mit.“DFB-Präsident Fritz Keller will den eingeschlagenen Umbruchkurs dann auch nach dem 0:6 fortsetzen. Das erklärte der 63-Jährige am Mittwoch in einer Stellungnahme auf der Verbandsseite, in der er den Bundestrainer allerdings nicht namentlich erwähnte.
Simón (Athletic Bilbao/23/3) - Roberto (FC Barcelona/28/10), Sergio Ramos (Real Madrid/34/178 - 43. E. Garcia (Manchester City/19/4)), P. Torres (FC Villarreal/23/7), Gaya (FC Valencia/25/12) - Rodri (Manchester City/24/17), Canales (Betis Sevilla/29/8 - 12. Ruiz (SSC Neapel/24/9)) - Olmo (RB Leipzig/22/8 - 73. Moreno (FC Villarreal/28/9)), Koke (Atlético Madrid/28/47), F. Torres (Manchester City/20/7 - 73. Asensio (Real Madrid/24/26)) - Morata (Juventus Turin/28/36 - 73. Oyarzabal (Real S. San Sebastián/23/11))
Neuer (Bayern München/34/96) - Ginter (Bor. Mönchengladbach/26/35), R. Koch (Leeds United/24/7), Süle (Bayern München/25/29 - 46. Tah (Bayer Leverkusen/24/13)), Max (PSV Eindhoven/27/3) - Goretzka (Bayern München/25/29 - 61. Neuhaus (Bor. Mönchengladbach/23/3)), Gündogan (Manchester City/30/42), Kroos (Real Madrid/30/101) - L. Sané (Bayern München/24/25 - 61. L. Waldschmidt (Benfica Lissabon/24/7)), Gnabry (Bayern München/25/17), Werner (FC Chelsea/24/35 - 76. Henrichs (RB Leipzig/23/5))
Ekberg (Schweden)
1:0 Morata (17.), 2:0 F. Torres (33.), 3:0 Rodri (38.), 4:0 F. Torres (55.), 5:0 F. Torres (71.), 6:0 Oyarzabal (89.)
- / R. Koch (1), Tah (1), Gnabry (1)
„Ja, sechs. Gegen Deutschland. Das war historisch, die Art von Ereignis, bei dem 65.000 den Rest ihres Lebens damit verbringen sollten, zu prahlen, dass sie dabei gewesen sind. Stattdessen können das gerade mal 300, aber sie werden es tun. Die Mannschaft von Joachim Löw wurde zunichtegemacht.“„The Guardian“