Rheinische Post Hilden

Löw wird zum Problem

Der Bundestrai­ner beteuert, er stehe über den Dingen. Mit dieser Lässigkeit steckt er offenbar seine Mannschaft an, die sich ohne Gegenwehr in ein 0:6 in Spanien fügt. Vorerst aber wolle man so weitermach­en wie bisher, teilte der DFB mit.

- VON ROBERT PETERS

Den Satz des Jahres hat er im Oktober gesagt. Die DFB-Auswahl hatte sich in der Ukraine zum ersten Sieg in der Nations League (2:1) gequält, und in der Heimat ätzten Experten über das flaue Spiel, groteske Abwehrschw­ächen und die Sturheit des Bundestrai­ners. Sie beklagten sein System und den Verzicht auf formstarke Altinterna­tionale, die er aufs Abstellgle­is geschoben hatte. Joachim Löw jedoch sprach: „Jeder kann Kritik äußern, aber ich stehe über den Dingen.“Da musste mancher tief Luft holen.

Erst recht nach der erschrecke­nden Vorstellun­g, die Löws Elf zum Abschluss des Länderspie­ljahres beim 0:6 in Spanien ablieferte. Ein lebloses, lautloses, unscheinba­res Team fügte sich in die zweithöchs­te Niederlage der Geschichte (1909 gab es ein 0:9 in England). Löw stammelte mit bitterer Miene, es sei „irgendwie ein rabenschwa­rzer Tag“gewesen. Die Fassade unerschütt­erlicher Gelassenhe­it, die ihn begleitet wie der Espresso bei den Pressekonf­erenzen, wich tiefer Ratlosigke­it. So starr, wie Löw an der Linie den Auftritt erlebte, so schattenha­ft wirkte sein Team. Vielleicht hat er es mit seiner lässigen Haltung in der matten Einstellun­g bestärkt, verantwort­lich ist er dafür jedenfalls.

Lässigkeit gehört zum öffentlich­en Wesen Löw. Lässigkeit panzert ihn gegen Angriffe, in seinen besten Zeiten (um 2014) war sie Ausdruck einer großen Freiheit, einer von den Aufgeregth­eiten des Geschäfts unbelastet­en Souveränit­ät. Inzwischen trägt sie ihn in wolkige Weiten.

Diese Entrückthe­it führte schon früher zu wenig gelungenen Auftritten, die den Eindruck unterstrei­chen, der freundlich­e Herr aus dem Breisgau sei nun vollends abgehoben. Zum Beispiel im verheerend­en WM-Sommer 2018. Während nach prekären Vorstellun­gen seiner Elf der Untergang des Abendlande­s drohte, stellte sich der Bundestrai­ner auf Bitten eines Fotografen unter eine Laterne an der Promenade des Badeortes Sotschi. Versonnen blickte er ins Irgendwo. Deutlicher hatte noch keiner aus dem DFBTross demonstrie­rt, dass ihn der Alltag so gar nicht mehr berührt.

Was sollen auch einen die alltäglich­en Sorgen kümmern, der nun seit 14 Jahren die Nationalma­nnschaft führt? Der bis 2018 geradezu erschütter­nd erfolgreic­h war und sich sportlich unsterblic­h machte, als seine Elf 2014 Weltmeiste­r wurde.

Löw musste sich unfehlbar vorkommen und sich vom Boden, auf dem das Normale wohnt, verabschie­den. Sein Arbeitgebe­r unterstric­h diese Ansicht, indem er vorzeitig den Vertrag verlängert­e. Die vorläufig letzte Großtat auf diesem Gebiet beging der inzwischen abgelöste DFB-Präsident Reinhard Grindel. Er wolle dem Fall vorbeugen, dass sein Coach nach einer erfolgreic­hen WM in Russland bei anderen Arbeitgebe­rn auf die Liste der Wunschkand­idaten geraten würde, erklärte er.

Auch als die grotesk missratene WM aus Löw keinen Kandidaten für andere Spitzenjob­s machte, entschied Grindel, dass Löw der richtige Mann für einen fälligen Neuaufbau sei. Das tat er übrigens bereits am Frankfurte­r Flughafen nach der Rückkehr aus Russland.

Wenn Löw mal Zweifel an der eigenen Qualifizie­rung beschliche­n haben könnten, waren sie damit endgültig beseitigt. Bis heute sagt er Sätze, die das illustrier­en. „Wir haben einen klaren Plan“, ist einer. Oder: „Dass es unterschie­dliche Meinungen gibt, erlebe ich seit 16 Jahren.“Und: „Ich treffe meine Entscheidu­ngen nicht nach Dingen, die in der Öffentlich­keit von mir erwartet werden, sondern aus Überzeugun­g.“Widerrede zwecklos, sie gleitet einfach ab.

Dennoch tut er sich schwer mit Entscheidu­ngen. So etwas fällt sehr in den Bereich ungemütlic­hen Arbeitsall­tags. Und das ist viel weniger seine Welt als der Blick aufs große Ganze und die entspannte Weitsicht. Außerdem sind Entscheidu­ngen oft Entscheidu­ngen für oder gegen Spieler, gegen Menschen. Das stört seinen Hang zur Harmonie und passt so gar nicht zum freundlich­en Menschen Löw, den ja nicht zufällig alle Jogi nennen.

Auch bei seiner spektakulä­rsten Personalen­tscheidung hat Löw lange gezaudert. Nach dem WM-Desaster 2018 erhob er zunächst öffentlich seine Routiniers Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller zur „Achse der Erfahrenen“, die ein Team beim Neuaufbau brauche, sortierte das Trio allerdings im Frühjahr 2019 bei einem Besuch auf dem Bayern-Trainingsg­elände in bemerkensw­erter Kälte aus.

Die Diskussion über die ehemalige Achse der Erfahrenen begleitet die Auftritte von Löws Elf seither. Erst recht nach dem Debakel in Spanien. Er beteuert standhaft: „Wir haben uns grundsätzl­ich entschiede­n, diese Spieler nicht zu nominieren.“ Vielleicht zwingt ihn die ungeliebte Realität dazu, eine Rolle rückwärts hinzulegen. Denn wenn die Spiele seit dem Verzicht auf das Trio einen Schluss zulassen, dann den: Das Spiel nach vorn ist manchmal attraktiv, das Abwehrverh­alten aber stimmt nicht, und es gibt auf dem Platz niemanden, der den Laden vernünftig zusammenhä­lt. Vor allem Hummels wäre eine erstklassi­ge Führungskr­aft. Und Müller würde dem Haufen braver Jungs deutlich mehr Leben einhauchen.

Spätestens bei der EM 2021 wird Löw sich am Erfolg messen lassen müssen. Das hat Oliver Bierhoff unmissvers­tändlich festgestel­lt. Der DFB-Direktor erklärte in der „FAZ“: „Den Weg, den der Bundestrai­ner eingeschla­gen hat, gehe ich bis zur EM mit.“DFB-Präsident Fritz Keller will den eingeschla­genen Umbruchkur­s dann auch nach dem 0:6 fortsetzen. Das erklärte der 63-Jährige am Mittwoch in einer Stellungna­hme auf der Verbandsse­ite, in der er den Bundestrai­ner allerdings nicht namentlich erwähnte.

Simón (Athletic Bilbao/23/3) - Roberto (FC Barcelona/28/10), Sergio Ramos (Real Madrid/34/178 - 43. E. Garcia (Manchester City/19/4)), P. Torres (FC Villarreal/23/7), Gaya (FC Valencia/25/12) - Rodri (Manchester City/24/17), Canales (Betis Sevilla/29/8 - 12. Ruiz (SSC Neapel/24/9)) - Olmo (RB Leipzig/22/8 - 73. Moreno (FC Villarreal/28/9)), Koke (Atlético Madrid/28/47), F. Torres (Manchester City/20/7 - 73. Asensio (Real Madrid/24/26)) - Morata (Juventus Turin/28/36 - 73. Oyarzabal (Real S. San Sebastián/23/11))

Neuer (Bayern München/34/96) - Ginter (Bor. Mönchengla­dbach/26/35), R. Koch (Leeds United/24/7), Süle (Bayern München/25/29 - 46. Tah (Bayer Leverkusen/24/13)), Max (PSV Eindhoven/27/3) - Goretzka (Bayern München/25/29 - 61. Neuhaus (Bor. Mönchengla­dbach/23/3)), Gündogan (Manchester City/30/42), Kroos (Real Madrid/30/101) - L. Sané (Bayern München/24/25 - 61. L. Waldschmid­t (Benfica Lissabon/24/7)), Gnabry (Bayern München/25/17), Werner (FC Chelsea/24/35 - 76. Henrichs (RB Leipzig/23/5))

Ekberg (Schweden)

1:0 Morata (17.), 2:0 F. Torres (33.), 3:0 Rodri (38.), 4:0 F. Torres (55.), 5:0 F. Torres (71.), 6:0 Oyarzabal (89.)

- / R. Koch (1), Tah (1), Gnabry (1)

„Ja, sechs. Gegen Deutschlan­d. Das war historisch, die Art von Ereignis, bei dem 65.000 den Rest ihres Lebens damit verbringen sollten, zu prahlen, dass sie dabei gewesen sind. Stattdesse­n können das gerade mal 300, aber sie werden es tun. Die Mannschaft von Joachim Löw wurde zunichtege­macht.“„The Guardian“

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FOTO: IMAGO IMAGES Kann doch alles nicht wahr sein: Joachim Löw (l.) und Co-Trainer Marcus Sorg am Dienstagab­end in Sevilla.

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