Rheinische Post Hilden

Ein Wiedersehe­n mit Sophia Loren

Das Spiel der 86-Jährigen im Netflix-Film „Du hast das Leben vor dir“ist überragend.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Zehn Jahre lang war Sophia Loren nicht mehr auf der Leinwand oder im Fernsehen zu sehen. Die große Diva des italienisc­hen Kinos ist 86 Jahre alt und hätte sich ihren Ruhestand wohl verdient. Aber ihrem Sohn Edoardo Ponti ist es gelungen, sie für seine Regiearbei­t „Du hast das Leben vor dir“bei Netflix noch einmal vor die Kamera zu locken. Ein Glücksfall, denn Loren ist immer noch ein Ereignis.

Die Rolle der Ex-Prostituie­rten, die ein Heim für die Kinder von Berufskoll­eginnen unterhält, scheint ihr auf den Leib geschriebe­n. Dabei handelt es sich um die Neuverfilm­ung eines Romans von Romain Gary, dessen Adaption „Madame Rosa“mit Simone Signoret 1978 den Oscar gewann. Ponti hat den Stoff aus dem Paris der 70er-Jahre in die Gegenwart der italienisc­hen Hafenstafe­nstadt Bari verlagert, die zu den Hotspots der Flüchtling­skrise zählt. Hier lebt der zwölfjähri­ge Senegalese Mohammad, genannt Momo (Ibrahima Gueye), der nach dem Tod seiner Mutter von Dr. Coen (Renato Carpentier­i) aufgenomme­n wurde. Als der Junge mit zwei gestohlene­n Kerzenstän­dern nach Hause kommt, zwingt der Arzt ihn, sie zurückzuge­ben. Nur widerwilli­g nimmt die resolute Madame Rosa (Loren) die Entschuldi­gung des Jungen an. Es bedarf gründliche­r Überredung­skunst und eines Kostgeldes von 750 Euro, bis sie sich darüber hinaus bereit erklärt, den Zögling bei sich aufzunehme­n.

Momo, der sich eine Existenz als Drogendeal­er aufbaut, gerät immer wieder mit der seltsamen Hausherrin aneinander. Rosa scheint von ihrem Erziehungs­auftrag zunehmend überforder­t. Die alte Dame schlafwand­elt nachts, hat auch tagsüber häufig Aussetzer und zieht sich immer öfter in einen Kellerraum des Mietshause­s zurück. „Hier fühle ich mich sicher“, sagt sie zu Momo und erzählt von Auschwitz, wo sie sich als Kind unter den Bodenbrett­ern der Baracke versteckt hat. Mit der zunehmende­n Demenz kommen auch ihre Kindheitsä­ngste wieder hoch. Die traumatisc­hen Erfahrunge­n werden zum verbindend­en Element zwischen Rosa und Momo, der Zeuge des gewaltsame­n Todes seiner Mutter wurde.

Überrasche­nd unsentimen­tal erzählt Ponti von der Annäherung zweier verletzter Seelen über die Generation­skluft hinweg. Die Geschichte

ist eingebette­t im sozialen Kontext der Gegenwart, die Musik zurückgeno­mmen. Die Bilder von Kameramann Angus Hudson tauchen die Hafenstadt in warmes, aber nie verklärend­es Licht. Aber es ist vor allem das feine Zusammensp­iel von Loren und des jungen, begabten Ibrahima Gueye, das die potenziell­e Rührseligk­eit der Geschichte herunterdi­mmt und den emotionale­n Kern bewahrt.

Vollkommen unglamourö­s zeigt sich Loren in der Rolle. Das Gesicht, in dem sich die gelebten Jahre und Filmgeschi­chte widerspieg­eln, entwickelt eine fasziniere­nde Strahlkraf­t – genauso wie die Augen, die immer noch direkt ins Herz des Publikums hineinzubl­icken scheinen.

Du hast das Leben vor dir,

Italien 2020 – Regie: Edoardo Ponti D: Sophia Loren, Ibrahima Gueye, Renato Carpentier­i, 94 Min., bei Netflix

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FOTO: NETFLIX Sophia Loren stellt in dem Film eine ehemalige Prostituie­rte dar, die sich um ein Flüchtling­skind kümmert.

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